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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Körper sogar herstellen können«, jubelte Charlotte.
    Abercrombie hoffte, dass sie ihn auch einmal so intensiv, ja, fast zärtlich anschauen würde wie jetzt den flachen, etwa 15 Zoll langen, schuppenlosen, mit ein paar Flecken auf der sandfarbenen Haut, insgesamt jedoch unauffälligen Fisch.
    »Ich dachte, Elektrizität kann nur mit einer Maschine oder durch Reibung erzeugt werden.«
    Für dieses Wissen wurde er allerdings doch mit einem wohlwollenden Lächeln belohnt.
    »Stimmt, aber mir ist schon früher aufgefallen, dass auch in der Atmosphäre Elektrizität frei zur Verfügung steht und man sie praktisch dort abziehen kann. Vielleicht …«
    Charlotte unterbrach sich und starrte wieder angestrengt auf das unscheinbare Wesen, das jetzt mit laschen Seitenflossen bewegungslos auf dem Grund des Fasses lag. Nicht einmal seine Augen sah man, denn die verbargen sich auf seiner Unterseite.
    »… gibt es auch in lebenden Körpern Säfte, Organe, Stränge oder sonst was, die sich elektrisch aufladen und leiten können. Ich habe schon einmal ein Experiment durchgeführt, bei dem ein schmerzhafter Zahn erfolgreich auf Elektrizität reagierte. Mr. Abercrombie, ich denke, wir sollten Ihren Freund hier aufschneiden.«
    Das Unterfangen erwies sich als nicht einfach. Denn der Rochen wehrte sich nach Leibeskräften, glitschig und wendig, bevor er endlich in einem Netz gefangen und mit einem Messer der Länge nach aufgeschnitten und gehäutet werden konnte. Obwohl Charlotte auf die Nähe gut sah und minutiös Kiemen, Blase und andere Innereien zerlegte und begutachtete, konnte sie nicht den Auslöser für die elektrische Kraft dieses Wunderfisches finden. Und ihr war klar, dass sie noch viel über die schwer begreifbare, aber nach dem heute Erlebten doch mögliche Existenz von elektrischer Kraft in lebenden Wesen würde nachdenken müssen. Am Ende, überlegte Charlotte, hatte auch der Mensch Elektrizität in seinem Körper. Das würde manches erklären. Am Abend kam Wind auf. Günstiger Wind.
    Sobald ihr Schiff Cowes verlassen hatte, gingen Charlotte und Samuel wieder zu ihrer Routine über. Um sie herum ragten jetzt allerdings öfter Mastspitzen von untergegangenen Seglern aus dem Meer. Am Fuß der Klippen rotteten gestrandete Schiffe vor sich hin, manche schon schief ins Wasser gesunken. Kapitän Boswell ließ sich selten an Deck sehen. Entweder stand er auf der Brücke oder zog sich in seine Kajüte zurück. Aber als sein gewaltiges, teigiges Doppelkinn, das Augen, Mund und Nase ganz klein und unproportioniert zusammenrückte, Charlotte dann doch einmal begegnete, fragte sie ihn sofort nach den Unglücksschiffen und erfuhr, dass der Ärmelkanal die gefährlichste Strecke der ganzen Reise war.
    Kaum hatten sie nach vier nervösen Tagen den englischen Kanal verlassen und den Atlantik erreicht, befahl Boswell einen südlichen, weil direkteren Kurs. Noch in der Nacht stiegen die Temperaturen und kletterten am Tag stündlich höher. Die Luft in den Zwischendecks wurde stickig und schwül. Trotzdem standen die beiden pfälzischen Meeresbeobachter fast immer alleine an der Reling, denn den meisten anderen Passagieren waren die zischenden, glitzernden Wellen, die noch dazu grüner und gleißender wurden, zu unheimlich und die Sonne zu stechend. Uri fühlte sich unwohl und döste, als Charlotte Sarah dazu überreden konnte, ihren kleinen Bruder in der Obhut anderer Frauen zu lassen und mit ihr die Leitern hochzusteigen, in denen sich zugegebenermaßen leicht die Röcke verfingen, und durch die schmalen Luke hindurch ins Licht hinauszusteigen. Doch ihre Begeisterung steckte die Freundin nicht an.
    Geblendet von der Sonne, den knatternden Segeln, fast schmerzhaft getroffen von dem randlosen grandiosen Blau, das die Wellen ihr in die Augen drückten und von dem es zu Hause nicht einmal Spuren gegeben hatte, blieb Sarah nur ein paar Minuten neben Charlotte stehen. Mit einem um Entschuldigung bittenden Augenaufschlag zog sie sich zurück. Zehn Minuten später folgte ihr Charlotte, um ebenfalls nach unten zu gehen und Uri zur Stärkung von dem weißen Rum, den sie einem der Matrosen abgekauft hatte, zum Trinken zu geben. Der Junge schlief, ebenso zwei Lager weiter im Schoß einer amischen Frau aus dem Hessischen Jakob. Nein, Sarah sei nicht aufgetaucht. Nein, ganz bestimmt nicht. Wenn, dann hätte man sie ganz sicher gesehen.
    Ohne auf die Beine, Kisten und Bündel zu achten, die sie anrempelte, hastete Charlotte mit gebücktem Rücken

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