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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Schulterblätter krebsrot. Glasig und heimtückisch glatt wie Spucke wartete das Meer, als sie sich dem 42. Breitengrad näherten. Sodass die Fahrt der Auswanderer ausgebremst wurde und niemand ihnen sagen konnte, wann sie ihr Ziel erreichen würden.
    Was genau für eine Krankheit es war, mit der das Fieber ins Zwischendeck kam, wusste niemand. Typhus oder Ruhr? Die Passagiere sprachen nur von der Gefängniskrankheit. Weil die sich immer dann breit machte, wenn Menschen so nah aufeinanderhocken mussten. Die Rotterdamer Firmen verdienten pro menschliche Fracht, deshalb stapelten sie Frauen und Männer in ihre Schiffe, als wären sie Kartoffelsäcke. Die Kapitäne wiederum interessierte in erster Linie, dass ihre Schiffe heil in den Häfen auf der anderen Seite des Atlantiks ankamen, von der lebenden oder gar fiebernden und stöhnenden Ladung wollten sie so wenig wie möglich sehen.
    Penetrant nach Mäuse- und Rattenkadavern, die schon seit der letzten Fahrt im Kielraum lagen, und der Mischung von Werg und Teer, die zum Kalfatern der Fugen zwischen den Planken gebraucht wurde, hatte es von Beginn der Fahrt an gerochen. Jetzt attackierten Stunde um Stunde die Ausdünstungen von kranken Körpern, Fäkalien und Erbrochenem die knappe Luft und eroberten sie. Der Gestank zwang auch die Gesunden, sich klein einzurollen, wie bewusstlos zu dösen und fatalistisch zu werden. Vom vielen Schlafen aber wurden sie immer müder. Viele schafften es nicht mehr, eines der beiden »heimlichen Gemächer« zu erreichen, die sich auf jeder Seite des Schiffes befanden und ihnen vertraglich zugesichert waren. Auch die Eimer quollen schnell über. Ungeziefer vermehrte sich beim bloßen Hinschauen. Als Erste und kurz hintereinander starben zwei Männer, eine junge Frau und fünf kleine Kinder. In Leinentücher gehüllt und begleitet von einer für die allermeisten unverständlichen, weil in Englisch gehaltenen Rede des Kapitäns, dessen Doppelkinn unter der Sonne wie ein Grießbrei auseinanderfloss, plumpsten sie ins Meer. Gleichgültig schloss es sich über ihnen wieder. Nur ein paar kleine Fische schnalzten auf der Oberfläche.
    Diejenigen, die noch nicht fieberten, scheuten sich, den Schmutz fortzuschaffen. Sie hatten alle Hände voll zu tun, ihre Familienangehörigen zu pflegen. Darauf zu achten, selbst sauber und fern von Unrat zu bleiben, wurde anstrengend, zunehmend sinnlos außerdem. Manche, egal ob Männer oder Frauen, hatten inzwischen so viele Läuse, dass ihnen die Nissen hell und körnig wie Raureif an den Haaren hingen. Doch die Leute vergaßen einfach, sie regelmäßig abzustreifen. Bei den Fieberkranken saßen die Läuse sowieso dick wie Brotkruste auf der Haut.
    Verwahrlosung griff um sich. Die Ratten rochen sie. Immer dreister wuselten sie krallentapsig, lang- und nacktschwänzig zwischen den Schlafstätten herum, kamen näher, krochen auf und unter die Decken und Kleiderbündel, schnupperten, bissen in Brotvorräte und nagten an Schuhen. Wenn sie verscheucht wurden, kamen sie schneller, als die Menschen sich umdrehen konnten, gleich wieder um die Ecke gerannt, meist in einem noch größeren Rudel. Mit ihren intelligenten Augen fixierten sie die Menschen, schätzten deren Kräfte ab und wie viele Tage ihnen noch blieben. Bei denen, die schon ganz schwach waren und flach atmeten, blieben sie gleich sitzen. Als Charlotte das erste Mal ein kleines Kind, kaum einjährig, mit blutender, halb abgefressener Wange sah und erfuhr, woher die Wunde stammte, übergab sie sich ruckartig. Ohne einen Eimer vor sich, und obwohl sie sich bis zu dem Moment wohl gefühlt hatte und auch ihre Schwangerschaft längst keinen Brechreiz mehr hervorrief.
    Seit dem Vorfall im Schweineverschlag, den sie nicht Vorfall nannten, weil sie ihn mit überhaupt keinem Wort erwähnten, schlief Sarah auf Charlottes großzügigem Quadrat. Eine hielt die Hand der andern, sodass unklar war, wer wen tröstete. Die Decke, die blassblaue, zur Hälfte schon bestickt mit strengen Trapezen, Rauten und kerzengeraden Nähten, war ausgepackt und mit einigen Nägeln aus Samuels Werkzeugvorrat an die niedrigen Deckenbalken genagelt worden. Regelmäßig betupfte Charlotte den provisorischen Vorhang von innen mit Tropfen aus ihren Parfumflacons. Rosenwasser hatte sie reichlich dabei, doch mit der »Verführung des Orients«, die öliger war und teuren, schweren Moschusduft enthielt, ging sie anfänglich sparsam um. Als bald darauf weitere sechs Erwachsene und acht Kinder

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