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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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unten, nun ja, eine Überfahrt sei kein Zuckerschlecken. Das Leben in den Kolonien, das würden sie schon noch merken, übrigens auch nicht. Der Junge solle auf der Stelle verschwinden und sich nicht mehr an Deck blicken lassen. Nicht dass einer seiner Männer sich noch anstecke.
    Wieder zurück im Zwischendeck flößte Samuel seinem Knecht, dessen Vater schon Knecht bei seinem Vater gewesen war, einen Großteil der eigenen Wasserration ein. Charlotte gab einen großen Schuss aus einer der Rumflaschen dazu, die sie, sobald wieder eine geleert war, bei einem Freund des Frettchengesichtes nachkaufte. Jede Flasche kostete mehr als die vorige. Uri trank und erbrach sich gleich wieder. Er glühte inzwischen, jammerte aber, dass ihm kalt sei. Sauerkraut konnte er nicht mehr schlucken, sich nicht einmal mehr hinsetzen. Ein Tag und eine Nacht zogen sich dahin, die sie abwechselnd bei ihm wachten.
    Sarah spürte den Tod als Erste und auch, was Uri brauchte, um ihm zu begegnen. Sie flüsterte es Charlotte ins Ohr. Nur drei, vier Worte, aber richtige Worte. Wieder einmal staunte Charlotte über das Mädchen, das immer somnambuler und gleichzeitig unbeugsamer wurde. Also kauerte sie sich neben den Jungen, betupfte seine Stirn und seine Locken, die einmal blond und mädchenhaft gewesen waren, jetzt aber dunkel verschwitzt und übel riechend an seinem Kopf klebten, mit einem Rosenwasser getränkten Spitzentaschentuch. Sie erzählte Uri von zu Hause, langatmig, leise und liebkosend. Von der Wiese direkt hinter den Stallungen des Muckentalerhofes, wo gewöhnlich die Übergabe des Weidenkorbes stattgefunden hatte. Über beide Ohren verliebt war Uri damals gewesen und sie selbst nur darauf aus, von ihm möglichst viele Versuchstiere zu bekommen. Sie sah wieder den kräftigen, frohen Kerl vor sich, um dessen Oberkörper sich das Hemd spannte. Jetzt lag Uri ausgemergelt vor ihr. Ihre Knie berührten seine Hüfte. Charlotte schämte sich.
    »Weißt du noch, wie du mich besucht und mir mit den Fröschen geholfen hast? Unser allererstes gemeinsames Experiment!«
    Obwohl sie flüsterte, öffnete er die Augen und versuchte, sie zu fokussieren.
    »Ja.«
    Mehr nicht. Aber er lächelte dabei. Samuel kroch hinzu, kniete sich hin, ergriff die Hand des Jungen, biss sich auf die Lippen, schwieg.
    »Ach, Uri, und du warst so mutig, so mutig.«
    Ganz tief beugte sich Charlotte jetzt über ihn. Das war sie ihm schuldig. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrer Wange. Aber sie sprach so, dass auch Hochstettler es hörte.
    »Du hast mir und der elektrischen Wissenschaft sehr geholfen, obwohl du wusstest, dass Herr Hochstettler dir verbieten würde, mich zu treffen. Stimmt doch. Trotzdem hast du es gemacht. Weil du kapiert hast, was man mit der Elektrizität alles machen kann, nicht wahr! Das war sehr klug von dir.«
    Noch einmal schaffte das hohlwangige, erschöpfte Gesicht ein Lächeln. Samuel nahm ihr das Tuch ab, befeuchtete es sorgfältig mit Rosenwasser, reichte es ihr und nahm wieder die Hand des Jungen zwischen seine Hände. Uris Lippen waren aufgesprungen, umgeben von einem Kranz nässender Bläschen. Unruhig warf er den Kopf herum, sein Mund öffnete sich einen Spalt, ließ ein gequältes Stöhnen durch.
    »Keine Sorge, Uri, ich bin hier. Das Fräulein von Geispitzheim, ich bleibe hier bei dir, hörst du mich!«
    Ununterbrochen tupfte sie ihm den Schweiß ab, der ihm aus den Poren rann. Auch er war eine schöne, sogar sehr freundliche Maschine, deren Räder sich jetzt aber verhakten. Hochstettler sprach Gebete. Mit ruhiger, fester Stimme. Dafür übernahm es jetzt Charlotte, zu schweigen und einfach dabeizusitzen. Als sich die angespannten Gliedmaßen des Jungen lösten und sein Atem flacher, aber ruhiger wurde, sahen sie sich an. Das zweite Mal mit weichen, unverstellten Blicken.
    Nacheinander wurden fünf Erwachsene und vier Kinder im Meer versenkt. Der Kapitän kam dafür nicht mehr aus seiner Kajüte. Dafür sprach ein Prediger aus Hamburg, der in Chester County eine Gemeinde übernehmen sollte. Chester County, Sarah hörte genau auf die Melodie des Wortes. Den Namen der katholischen Frau, die mit ihrer Familie aus einem Dorf nahe Münster gekommen war und fünf Kinder hinterließ, nannte der Prediger laut und deutlich. Hochstettler knetete seinen schwarzen Hut und fand, dass es eine angemessene Predigt war. Das hätte er auch gegenüber dem Ältesten so vertreten, der sicher erbost gewesen wäre, dass Uri zu den Worten eines Lutheraners

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