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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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starben, verspritzte sie das Parfum verschwenderisch. Außerdem spülte Charlotte ihr Haar regelmäßig mit einer Mischung aus Salzwasser und Rum.
    Sarah hielt durch, indem sie wieder so tat, als gäbe es sie nicht. Die Lider halb geschlossen, die Muskeln entspannt und schwer, zog sie sich in den Kokon ihrer schweren Kleider zurück und löste sich auf. Wer nicht da war, konnte auch kein Fieber bekommen. Der musste auch nicht würgen, weil plötzlich neue Dünste von der nächsten Schlafstätte durch den Vorhang drangen, der brauchte nicht einmal traurig sein. Sarah vervollkommnete während dieser Tage diese Methode des Überlebens. Dabei sang sie Lieder. Lange, traurige aus dem » Ausbund « oder solche, die ihre Mutter beim Spinnen oder am Webstuhl gesummt hatte. Niemand hörte Sarahs Lieder, denn Lippen, die nicht mehr vorhanden waren, konnten sich auch nicht bewegen. Dann kam der Mittag, an dem die Lieder, die sie sang, die Schweißtropfen in ihrem Rücken nicht mehr wegspülten. Sarah spürte sich wieder. Mit einem Mal nahm sie auch wieder das dünne katzenhafte Wimmern der kleinen Agnes aus dem Badischen wahr. Der alte Mann, dessen Namen sie nicht kannte, spuckte und rotzte wie vor zwei Tagen, und niemand half ihm. Wo war Charlotte? Sarah streckte die Hand aus der Kleiderhülle heraus und tastete. Die langen Finger der Freundin schlossen sich fest um ihre.
    In dieser leimzähen und ekelsüßen Mittagsstunde hörte Sarah zum ersten Mal Musik. Ganz deutlich. Die Musik zwang Sarah dazu, sich so lange im Kreis zu drehen, bis ihr endlich schwindlig wurde und ihre Sinne schwanden. Das Rasseln aus entzündeten Lungen verschränkte sich in ihren hübschen Ohren mit den dunklen Hilferufen sterbender Männer, dem Weinen der Mütter und den eleganten Trippelgeräuschen der Ratten und schwoll zu einem mitreißend fröhlichen Akkord an. Diese Musik strich über die Balken und zwischen die miefigen Körper und beschützte Sarah mehr als die schwarze Haube, die Täuferkleider und die Lieder aus dem Ausbund zusammen.
    Nur für kurze Zeit gegen Abend, dann aber zuverlässig, rappelte Sarah sich auf und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Dann war sie jedes Mal ganz wach. Wenn die blassblaue Decke einen Spalt nicht geschlossen war, zog sie den Vorhang schnell zu. Ihr Schatz waren zwei kniehohe graue Steinguttöpfe mit kornblumenblauen Mustern bemalt. In den Töpfen steckte Sauerkraut, das inzwischen gut vergoren war. Behände füllte sie Samuel, Charlotte, Uri und dem kleinen Jakob das wässrige Kraut in ihre Schalen. Immer in dieser Reihenfolge. Sich selbst versorgte Sarah zum Schluss. Dann winkte sie, und die anderen krochen hinter die Decke. In dieser Runde saßen sie und löffelten stillschweigend, kauten gründlich, die Augen niedergeschlagen, jeden der nahrhaften Bissen auskostend, die Würze genießend, sie solange im Gaumen haltend, wie es nur ging. Samuel, Uri und Sarah verzichteten darauf, barmherzig zu sein und das Sauerkraut mit den Menschen jenseits der blauen Decke zu teilen.
    Ebenso heimlich verspeisten sie jeden zweiten Tag die Innereien von den Schweinen aus dem Verschlag, die nacheinander abgestochen wurden. Dazu fette schwarze Bohnen und Graubrot. Das alles zusätzlich zu den knappen, ranzigen Portionen, die ihnen vertragsmäßig wie allen anderen Passagieren vom Schiffskoch zustanden. Denn Charlotte hatte mit dem Frettchengesicht und dem Dicken eine Art Übereinkommen geschlossen. Gute Lebensmittel wurden gegen Stillschweigen gehandelt. Das war nur gerecht. Was hätte es außerdem Sarah genützt, wenn das Fräulein von Geispitzheim zum Kapitän gegangen und die beiden Halunken angezeigt hätte? Man hätte die beiden an den Mast gebunden und ausgepeitscht. Danach wären sie aller Wahrscheinlichkeit erst recht heimtückisch geworden. So aber sorgten die Halunken dafür, dass sie alle, das Baby in Charlottes Bauch eingeschlossen, nicht vom Fleisch fielen.
    Trotzdem ging es Uri von Tag zu Tag schlechter. Samuel gab sich anfänglich Mühe, den Jungen nach oben zu schleppen, damit er frische Luft schnappen konnte. Doch er fieberte immer mehr und übergab sich oft. Sogar einem Seemann direkt vor die Knie, der gerade dabei war, das Deck mit einem Stück weichen Sandstein zu schrubben. Mr. Abercrombie, der erste Offizier, kam dazu. Das Gesicht verriegelt, die Stimme eckig, erklärte er, dass das Deck von englischen Schiffen fleckenlos sauber zu sein habe, immer und zu jeder Zeit. So lautete der Befehl. Die Zustände

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