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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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seine letzte Ruhe finden musste.
    Auf die zermürbende Flaute folgte nahezu übergangslos ein Sturm. Der erste Sturm dieser Fahrt. Innerhalb weniger Stunden schwoll er zu einem Orkan aus Nord-Nordost an. Das Meer versuchte, das Schiff abzuschütteln und die Trauer über Uris Tod. Die Dünung rollte zuerst schwerfällig wie Blei und glänzte auch so. Nach kurzer Zeit schoss sie zu Bergen auf und stürzte zu Tälern herab, deren Ausmaße sich Pfälzer Bauern oder Untertanen des hessischen Landgrafen nie hätten vorstellen können. Diejenigen, die in dem dunklen Bauch gefangen saßen, verloren jegliche Orientierung. Oben stürzte nach unten und das Meer in den Himmel. Dazu peitschte Regen. Das Wasser drang durch die Luken, und gierig füllten die Passagiere ihre Blechnäpfe und Schüsseln, tranken hastig und viel, gossen es sich über das Gesicht, die stinkende Kleidung, die schmierigen Haare. Dann bekamen aber sogar die Ratten Angst und versuchten, quiekend höherzuklettern. Bald schoss das Wasser nur so ins Zwischendeck. Die blaue Decke saugte sich voll und bekam einen hässlichen dunklen Salzrand. Kisten und Säcke platzen auf. Kinder und Erwachsene rutschten von einer Seite zur anderen, brachen sich Arme und Beine oder schlugen sich die Köpfe blutig.
    Samuel und ein anderer kräftiger Mann wurden an die Pumpe gerufen, vorsorglich band man sie mit Tauen fest. Vier Stunden später mussten zwei andere ran. Kapitän Boswell ließ zunächst hoch am Wind kreuzen. Weil er erfahren war, gab er dem ersten Offizier rechtzeitig Befehl, die Segel bergen zu lassen. Sodass die Windkraft nur noch auf die Brigg träfe. Jeder der Männer, die klitschnass im Affentempo in die Wanten kletterten, wusste, dass er sein Leben riskierte. Als sie es geschafft hatten, hatten sie nicht einmal Zeit, die Extraportion Rum, die ihnen zustand, zu trinken. Eine Regenbö, eine schwarze Wand, drückte sie nieder, warf einen Mann über Bord. Dafür hatte der Rudergänger jetzt die schwierige Aufgabe, das Heck des Schiffes zu den anrollenden Wellen zu halten, um ein Querschlagen des Schiffes zu verhindern.
    Der Wind heulte ohrenbetäubend in der Takelage, und Boswell hatte Mühe, seinen nächsten Befehl dagegen anzuschreien. Über dem Bug wurde ein Treibanker ausgebracht, um das Schiff im Wind zu halten. Eine Woge nach der andern knallte gegen die »Good Intent«, und mindestens jede dritte brach zischend und grollend über ihr zusammen. Die Menschen wurden durcheinander gewirbelt wie Maikäfer in einer Schachtel, mit der Samuel als Junge über die Felder gerannt war. Natürlich fragte er sich, und nicht nur er, ob das Jüngste Gericht und damit auch die Auferstehung sich so ankündigten. Ob es so laut und tosend sein würde und sich nicht nur die Erde, sondern auch die Meere auftun würden. Aber diese Überlegungen waren glücklicherweise nur flüchtig, denn die Menschen brauchten alle ihre sieben Sinne, um sich an irgendetwas festzuhalten und nicht erschlagen zu werden. Die meisten kotzten sich sowieso die Seele aus dem Leib.
    Außer Sarah. Sie hielt ihren kleinen Bruder umschlungen, als wäre er an ihrem Bauch angewachsen, presste ihren Kopf auf seinen und rutschte so verknäult quer durch das Zwischendeck. Übel war ihr als einer der ganz wenigen an Bord der »Good Intent« überhaupt nicht. Außerdem schaffte sie es auch noch, auf die Sauerkrauttöpfe aufzupassen. Nichts zerbrach, nichts lief aus. So einen Sturm, dachte sie sich, als sie mit Jakob gegen einen fremden Bauch prallte, hat noch keines der Mädchen zu Hause in der Pfalz erlebt. Nicht einmal Jacob Egly, der Älteste der Gemeinde, hatte in seinen Predigten von einem so wütenden Himmel und einem so höllischen Grollen im Wasser gesprochen. Vielleicht hätte der Älteste sich bei dem Sturm sogar die Nase eingeschlagen oder … Sarah erschrak über die Abgründe ihrer Gedanken. Gleich darauf kam ihr in den Sinn, dass sie während des ganzen tollwütigen Tanzes auf dem Meer, und ein Tanz war es, nicht die geringste Angst verspürte.
    Als sich irgendwann der Sturm auf dem Meer und in den Mägen legte, breitete sich im Zwischendeck eine große Erschöpfung aus. Nicht restlos überzeugt, ob sie noch lebten, befanden sich die Menschen in einem selten schwerelosen Zustand, der fast an das vollkommene Glück grenzte, weil ihnen fast alles gleichgültig war. Die Bewegungen des Holzkastens um sie herum schaukelten sich in den seit sechs Wochen vertrauten Rhythmus ein, Wasser und Wind wisperten

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