Der elektrische Kuss - Roman
Sklaven ein- und ausstiegen. Einmal wurden sie Zeuge, als ein Mann seinen schwarzen Diener mitten auf dem Gehsteig auspeitschte. War dieser Mann ein Christ? Was hätte William Penn dazu gesagt? Samuel und Charlotte wechselten keine Wort und nur selten Blicke.
In Elfreth`s Alley, wo Charlotte einen Laden entdeckte, der ein unüberschaubares Sortiment an Parfums führte und wo sie sofort freudlos, aber großzügig einkaufte, begegneten ihnen drei Männer mit baumelnden Schläfenlocken vor den Ohren. Zwei Straßen weiter hörten sie halbwüchsige Kinder in Pfälzer Mundart reden, dann aber sofort, als sie bei einer Marktfrau Fische kauften, in flüssiges Englisch wechseln. Kurz darauf sahen sie auch noch die wilden Leute, die Indianer, von denen man sich in Europa so viel erzählte. Sie wirkten verschüchtert und armselig. Eine von ihnen, eine kleine ältere Frau, lachte Jakob an, sodass man ihre weißen, vollzähligen Zähne sehen konnte. Erstaunlicherweise lächelte Sarah zurück und sagte ein paar Worte auf Deutsch, die die Frau in dem Lederkleid natürlich nicht verstand. Aber sie streichelte Sarah über die Haube und berührte sacht ihr sommersprossiges Gesicht.
Die meisten Bürger Philadelphias schienen Quäker zu sein. Samuel hatte von den anderen Pfälzern gehört, dass die Quäker den Ton in der Stadt angaben und die Politik bestimmten. Sonderlich fromm aber kam ihm die Stadt trotzdem nicht vor. Sogar am Sonntag wurden Geschäfte gemacht und Pferderennen abgehalten, und die Kneipen waren überfüllt. In dem Gasthof, in dem sie regelmäßig einkehrten, betete auch kein Mensch vor dem Essen.
Trotzdem war sich Samuel, nachdem sie drei Tage hinter einander die Straßen durchwandert hatten, sicher, dass sich Gottes Verheißung erfüllte. Ich will euch sammeln aus den Völkern und will euch sammeln aus den Ländern, dahin ihr verstreut seid. Dass Charlotte mit gesammelt worden war, war Teil des göttlichen Plans, davon war er ebenfalls überzeugt. Gottes großer Plan steckte voller Geheimnisse und machte es dem Menschen nicht leicht. Zwar trat das Herzrasen nicht mehr auf, und er hatte auch keine Schwindelanfälle mehr wie tagsüber auf dem Schiff. Aber die im Brustraum ziehende Sehnsucht nach Charlotte, ihrem offenen Haar und ihren nach Äpfeln riechenden Achselhöhlen spürte Samuel mehr denn je, während sie unter ihrem gelben Hut, nach »Türkischer Frühling« duftend, an der Seite von Sarah spazierte.
Einmal trafen sie vor dem »Blue Anchor« Kapitän Boswell in Begleitung dreier vornehmer Herren. Kapitän Boswell freute sich, sein Doppelkinn leuchtete dunkelrot und roch nach verschüttetem Rum. Die Witwe von Geispitzheim freute sich auch. Die Täufer gingen derweil unbeachtet und ebenfalls nicht interessiert langsam weiter.
»Es ist mir eine Ehre, Ihnen Mr. James Hamilton, den Gouverneur von Pennsylvania vorstellen zu dürfen.«
»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mrs. von Geispitzheim. Seien Sie in unserer schönen Kolonie willkommen.«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits.«
Eine Verbeugung, ein Handkuss, Charlotte erwähnte anstandshalber den tragischen Tod ihres Mannes während der Überfahrt, nahm die Kondolenzworte tapfer entgegen, lächelte, wie sie es am Hof von Kirchheim gelernt hatte. Die Spielregeln waren in der neuen Welt nicht anders. Die beiden anderen Gentlemen entpuppten sich als William Allen, der Schwager Hamiltons und Vorsitzender Richter des höchsten Gerichtshofes von Pennsylvania, und als Conrad Weiser, ein gebürtiger Deutscher. Beide, das erkannte die Tochter ihrer Mutter, umströmte eine Aura von Geld und Bedeutung. Dementsprechend charmant plauderte Charlotte mit ihnen. Ganz nebenbei erfuhr sie bei dieser Gelegenheit, dass in den englischen Kolonien gerade jetzt auf den gregorianischen Kalender umgestellt wurde.
Als sich Charlotte zusammen mit Sarah und Jakob an jenem Abend ins Bett legte, war es der 2. September. An dem Tag, an dem sie wieder die Augen aufschlug, schrieb man den 14. September. Zwölf Tage fehlten ihr. Zwölf Tage, die unsichtbar und schnell gewesen waren wie der elektrische Strom. Noch im Bett liegend grübelte Charlotte über diese zwölf Tage nach beziehungsweise, was an ihnen wohl geschehen war. Waren schon früher in ihrem Leben Tage einfach so lautlos verloren gegangen wie einzelne lila Strümpfe? Für unwahrscheinlich hielt sie das nicht.
Dann kam ihr ein Gedanke, der sie an diesem warmen Spätsommertag in Philadelphia nicht mehr verließ
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