Der elektrische Kuss - Roman
und in ihr blieb, bis sie eine alte Frau geworden war. Der Gedanke verfestigte sich über die Jahre zu einer Geschichte, an die sie glaubte und unter dem Siegel der Verschwiegenheit irgendwann ihrer jüngsten Enkelin erzählte. Nämlich, dass sie am 5. September Samuel Hochstettler geheiratet und bis zum 13. September 1752 die Flitterwochen mit ihm in einer Pension im zweiten Stock über der Eisenwarenhandlung von Mr. Peter Bard verbracht habe. Jeden Abend hätten sie Hummer mit handtellergroßen Scheren verspeist.
Am Morgen des 14. September zog Charlotte, ohne mit der Wimper zu zucken, die dunkeln Gewänder an, die Sarah für sie aus der großen Schiffskiste ihres Vaters zog. Sie stammten von Johanna Hochstettler und hatten den Vorteil, dass sowohl der Rock als auch das Hemd großzügig geschnitten waren und mit einem Band je nach Bedarf enger oder weiter gestellt werden konnten. Nützlich sei so etwas, sagte Sarah, und Charlotte stimmte ihr zu. Sehr nützlich.
Kapitel 11
R echtzeitig bevor der Winter begann, zogen sie mit einem Planwagen, vor dem zwei Pferde gespannt waren, über die unbefestigte Straße, die von Philadelphia über Germantown, Reading und Tulpehocken führte an den Maiden Creek zur Yoder-Farm. Jetzt erst kamen sie wirklich in Amerika an. In den endlosen Wäldern, wo unsichtbare Vögel geräuschvoll aufflogen und zu Samuels Freude unzählige Bäche flossen. Sie erlebten aber auch zum ersten Mal ein Land, in dem tagelang kein anderer Mensch auftauchte. Von Amerika wusste man ja nicht einmal, wo es im Westen überhaupt endete. Je weiter sie in die Wildnis fuhren, umso sicherer wurde Sarah, dass der Älteste ihrer Pfälzer Gemeinde ihr bis hierher niemals nachkommen würde. Außerdem schimmerten die dicken hohen Grasbüschel, die sie durch die Plane sehen konnte, pistaziengrün. Vielleicht, so dachte sie, fühlte sich dieses Land, wenn man tiefer hineinschlüpfte, so an wie die Pantoffeln, die ihr Charlotte geschenkt hatte.
Aaron Yoder war sieben Monate zuvor von Indianern überfallen, erschlagen und skalpiert worden, kaum einen Tagesmarsch von seinem Haus entfernt. Obwohl bewaffnet mit einem Jagdgewehr, hatte er sich nicht gewehrt. Seltsamerweise hatte er, als man ihn fand, keine Stiefel mehr an den Füßen. Seine Witwe brauchte einen neuen Mann. Der Handel mit ihr sah so aus, dass Hochstettler noch vor dem Frost ihre Felder pflügen, alle längst überfällige schwere Arbeit verrichten, in den Wintermonaten den Roggen dreschen sowie für sie und ihre Kinder Fleisch aus dem Wald beschaffen würde. Dafür konnten er und sein Anhang bei ihr wohnen und mit ihr Mais, Bohnen, Käse, Milch, Eier und alles, was sonst an Vorräten eingelagert war, teilen. Ein anderer Amischer namens Hans Yoder, der noch tiefer in der Wildnis, fast am Fuß der Blauen Berge, wohnte und nach Philadelphia gekommen war, um seinen jüngsten Bruder aus der Gemeinde Zweibrücken vom Schiff abzuholen, hatte sich nach einem entsprechenden Mann für seine Cousine umgeschaut und die Bedingungen ausgehandelt. Als die kleine Gruppe schließlich an ihrem Ziel ankam, fingen die Blätter gerade an, sich zu verfärben.
Das Wiehern der Pferde ließ Barbara Yoder die Tür ihres spitzgiebeligen Hauses einen Spalt öffnen. Als sie heraustrat, klackerten ihre Holzpantinen auf dem Boden. Sie blieb unmittelbar vor der Schwelle stehen. Eine hagere knochige Gestalt, das Gesicht im Schatten der schwarzen Haube, die sich die mehligen Hände an der Schürze abwischte. Ihr Kleid, das sicher einmal die Farbe von Waldameisen oder Blaubeeren gehabt hatte, war vom Waschen und Arbeiten in der Sonne ausgebleicht wie die Holzschindeln einer Scheune. Ich hätte meinen zweiten Rock anziehen sollen, dachte die Witwe. Der war in einem besseren Zustand, allerdings hatte sie ihn mit vierzehn bekommen, und weil sie seitdem noch gewachsen war, reichte er nur noch bis zu den Waden. Hastig schlug sie sich eine Mücke aus dem Gesicht. Drei barfüßige Jungen mit blonden Haaren und blonden Wimpern drängten sich dicht an sie und beäugten die Fremden mehr erschrocken als neugierig. Der von der Größe her der mittlere zu sein schien, war auf einem Auge blind. Zu Charlottes Verwunderung gackerten in diesem Moment Hühner im Geäst des großen Baumes, der neben dem Haus stand. Einen Hühnerstall schien es nicht zu geben, einen Hund auch nicht. Barbara Yoder fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen, aufgesprungenen Lippen.
»Was wollt ihr?«
»Dein Vetter schickt
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