Der elektrische Kuss - Roman
mich, Hans.«
Barbara Yoder legte eine Hand auf den Kopf des mittleren Jungen. Sie fixierte die Ankömmlinge ausdruckslos. In ihr Gesicht, von dem man nicht sagen konnte, ob es jung oder alt, schön oder hässlich war, kam erst eine Regung, als sie begann, sich in die Unterlippe zu beißen. Samuel schob das Kinn vor und lächelte sie an. Als sie auch darauf nicht reagierte, nannte er den Namen der pfälzischen Täufergemeinde, aus der er stammte, dann seinen. Als nächstes wiederholte er sorgfältig Wort für Wort, welche Vereinbarungen mit ihrem Verwandten getroffen worden waren, damit sie gleich wusste, woran sie war. Und dass er, Samuel Hochstettler, auf alle Bedingungen, die ja wohl sie, Barbara Yoder, gestellt habe, bereit sei, einzugehen. Dann erst nannte er die Namen von Sarah, Charlotte und Jakob, der allerdings noch zusammengerollt im Wagen schlief.
»Wo ist ihr Mann?«, fragte Barbara und bewegte sich keinen Fußbreit von der Türschwelle weg. Mit ihrem Kinn deutete sie auf Charlottes dicken Bauch. Ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, dass sie durchschaut hatte, dass unter dem dunklen schweren Gewand keine Täuferin steckte.
»Tot«, antwortete Samuel, noch bevor Charlotte etwas sagen konnte. »Während der Überfahrt an Fieber gestorben. Du erinnerst dich doch sicher noch an die schlimmen Verhältnisse auf dem Schiff. Auf unserem ist fast ein Viertel der Leute gestorben.« Nach einer winzigen Pause und etwas leiser fügte er hinzu: »Bestimmt erinnerst du dich auch an die Stelle in der Heiligen Schrift, wo Moses von Gott gesagt bekommt, wie das Volk mit Fremdlingen umgehen soll.«
Seine Anfangsworte versetzten Charlotte einen Stich, denn sie ahnte, wie viel Pein ihm die Lügen bereiteten. Wahrscheinlich hatte er in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie so viele falsche Aussagen gemacht, wie seit sie mit ihm reiste.
»Ich hab von dem Elend auf den Schiffen gehört. Aber«, und jetzt lächelte die Frau tatsächlich ein wenig und entblößte eine Lücke in ihrer oberen Zahnreihe, »ich bin hier geboren, drüben am Northkill Fluss, der in den Tulpehocken fließt, Aaron, mein Mann, Gott hab ihn selig, auch. Die Erde dort war besser. Aber wir danken Gott für die Gnade, dass er uns auch hier gute Ernten schenkt.«
Nach einer kleinen Pause fügte sie mit trotzigem Unterton hinzu: »Aaron hat alles Land um den Hof herum selbst gerodet.«
Was verstand dieser Hochstettler denn schon vom Roden. Er war zwar groß und kräftig, aber wirkliche Muskeln, um sich selbst vor den Pflug zu spannen und ihn durch die schwere Erde zu ziehen, auch die Hügel hinauf, und Eichenstrünke aus dem Boden zu schlagen, hatte er eindeutig nicht. Dazu hatte ihr ein Blick genügt. Er sah fast wie ein Stadtmensch aus. Ohne Flicken an der Jacke, ohne dass sein Gesicht von Kälte und Hitze aufgesprungen war. Und seine Tochter, die Augen wie Mühlräder hatte und nur zu träumen schien, hatte wahrscheinlich nie das Arbeiten gelernt, aber feine Lederschuhe an den Füßen trug sie. Was für eine Verschwendung!
Die Witwe schaute sich jeden gründlich an. Sie ließ sich Zeit. Der kleinste Junge zupfte an ihrer Schürze, sie ignorierte ihn. Ihre Hand lag noch immer auf dem Schopf des Mittleren. Und dann die Frau, die schwanger war. Barbara Yoder konnte sich nicht entsinnen, jemals solch ein Geschöpf hier am Maiden Creek oder überhaupt in Amerika gesehen zu haben. Hände wie abgeschöpfter Milchrahm. Zu nichts zu gebrauchen. War sie Hochstettlers Hure? War es sein Kind? Jetzt entdeckte die Witwe auch, dass Charlotte lila Strümpfe trug. Wozu Strümpfe im Sommer? Die aus der Alten Welt brachten oft die gottlosesten Sitten mit, das war ja bekannt. Aber so etwas! Wie die den Winter überleben wollten, das war ihr schleierhaft. Diese Pfälzer hatten vom Leben nicht die geringste Ahnung, schon gar nicht von dem in Amerika. Barbara Yoder kratzte sich gründlich am Nasenrücken.
In Gedanken aber rauschte der Witwe der Satz im Kopf, den Samuel nur angedeutet hatte. Wenn ein Fremdling bei dir in eurem Lande wohnen wird, den sollt ihr nicht schinden. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland.
Charlotte entging nicht, dass die Witwe lange Samuel anschaute. Natürlich musste sie sehen, wie breit er in den Schultern war, wie warm und bernsteinfarben seine Fuchsaugen glänzten. Die männliche Linie seiner Nase, die wunderschön
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