Der elektrische Kuss - Roman
geformten Knorpel seiner Ohrmuschel, die glücklicherweise vom Bart frei gelassen wurden. Überhaupt die Ohrmuscheln. Inzwischen war Charlotte überzeugt, dass sie tatsächlich nach göttlichem Abbild geformt waren. Sie musste sich zwingen, ihrerseits den Blick von ihm abzuwenden. Dafür drehte die Witwe den Kopf jetzt Charlotte zu. Charlotte sah, dass in dem unbeweglichen Gesicht zwei erstaunlich braune Augen saßen.
»Dein Kind kommt in drei, höchstens vier Wochen, nehme ich mal an?«
»Ja, das denke ich auch.«
»Dein erstes?«
»Ja.«
»Na ja, ich kenn mich aus und mit Gottes Gnade …«
Ein letzter misstrauischer Blick verfing sich im Saum des dünnen, rüschenbesetzten Unterrocks, der unter Charlottes Täuferkleid hervorblinzelte. Trotzallem schien das Verhör beendet. Charlotte war sich nicht sicher, ob sie vor der Frau Scheu empfand oder sie nur einfach nicht mochte. Vielleicht störte sie aber schon jetzt der Gedanke, dass Samuel in absehbarer Zeit bei dieser hageren freudlosen Ziege im Bett liegen würde.
Sie brachten viel mit aus Philadelphia. Säcke voller Mehl, Saatgut, auch Kleesamen, Beile und Sicheln, Kaffeemühlen, Gewürze, vor allem Pfeffer und Muskatnüsse, Zuckerhüte, blitzende Nähnadeln, ein Spinnrad, einen Webstuhl, duftende Kaffeebohnen, dicke Speckseiten in Öltücher eingewickelt, geräucherte Würste, Glasscheiben, Töpfe und Pfannen, Seife und Bienenwachskerzen. Zehn Flaschen Wein, zwanzig Flaschen Rum und ein kleines Fass mit Rosinen. Ein Ballen fliederfarbener Seide bildete neben der Elektrisiermaschine, den Parfumflacons, Schminkutensilien, Lockenscheren, den zwei überflüssigen Reifröcken und vier gestreiften und geblümten Kleidern, die sie bald wieder tragen wollte, das ganz persönliche Gepäck Charlottes. Bemerkte die Witwe, dass Samuel ihre Sachen besonders behutsam auslud? Eher nicht. Denn Barbara Yoder und ihre Kinder waren viel zu sehr damit beschäftigt, über die vielen Lebensmittel zu staunen, die sich plötzlich verführerisch auf dem Tisch in ihrer Stube stapelten. Sarah, die bislang kein Wort gesagt hatte, begann Speck in ansehnliche Streifen zu schneiden und an die Yoder-Kinder zu verteilen. Dann schaute sie sich um, fand neben dem Herdfeuer in der Küche allerdings nur eine brauchbare Pfanne, legte ein ordentliches Stück Schweineschmalz hinein und rührte dann mit dem frischen Mehl und der Milch der Yoder-Kühe einen sämig gelben Teig für Pfannkuchen an. Schließlich öffnete sie noch das Rosinenfässchen.
Äußerlich unterschied sich Barbara Yoders Haus deutlich von den wenigen der Engländer, an denen sie unterwegs vorbeigekommen waren. Es war vollständig aus grauen, unverputzten Quadersteinen gebaut und hatte winzige, unregelmäßig eingelassene Fenster, die von außen mit schweren Läden geschlossen werden konnten. Das Haus kam Sarah wie eine der Burgen vor, die sie unterwegs auf dem Rhein gesehen hatten. Sehr viel kleiner natürlich. Von innen konnte ein massiver Eisenriegel über die gesamte Breite der Tür gelegt und ein Stück in die Wand geschoben werden. Weil die Witwe seit langem keine Kerzen mehr besaß und stattdessen in Fett getränkte Rohrkolben hatte anzünden müssen, lag eine hässliche Schicht aus Fett und Ruß auf den Wänden. Durch die Fenster drang wenig Licht. Noch bevor sie ihnen das Obergeschoss zeigte, führte die Witwe die neuen Bewohner in den Keller. Das schien ihr der wichtigste Ort zu sein.
Obwohl es ein warmer Tag war, fröstelten Sarah und Charlotte. Jakob hatte in dem dunklen Gewölbe Angst und wollte auf den Arm seiner Schwester genommen werden. Die drei Yoder-Jungen standen stumm und barfuß auf den eiskalten Steinen. Barbara Yoder zeigte auf den schmalen Bach, der durch eine gemauerte Rinne unter dem Haus durchfloss.
»Wenn wir belagert werden, dann wird es uns auf jeden Fall nicht an frischem Wasser mangeln«, sagte sie und machte zum ersten Mal an diesem Tag ein vergnügtes Gesicht. Sarah lehnte sich für einen Moment an Charlottes großen, runden Bauch, um Wärme zu spüren, und schlang auch noch die Arme um ihre Freundin. Charlotte küsste sie auf die Wange. Wo waren sie nur gelandet? Keine der amischen Frauen in der Pfalz war so wie diese Witwe, ging es Sarah durch den Kopf, sondern froh und freundlich. Samuel erinnerte der Keller an das Gefängnis des Kurfürsten, in dem er eingesperrt gewesen war. Doch er nickte andächtig zu den Erklärungen der Witwe. Er begriff, was sie meinte, hoffte aber, dass sie
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