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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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übertrieb. Dann fragte er sie, ob sie Kleefelder und eine Mistgrube habe. Nein, habe sie nicht, antwortete sie. Die Tritte ihrer Holzpantinen hallten auf den Steinstufen, als sie wieder nach oben stiegen. Und die feuchte Kälte begleitete Sarah und Charlotte bis in die Küche. Ohne darüber nachzudenken, nahm Sarah die Hand des Jungen mit dem blinden Auge und schwang sie wie im Spiel hin und her. Er lächelte schüchtern. Barbara Yoders Blick streifte die beiden, und für einen winzigen Moment lächelte auch sie.
    »Ruben«, sagte sie.
    »Er heißt Ruben.«
    Alles in dem Haus war roh, karg, aber sauber. Es fehlte die warme Geborgenheit der Hochstettlerschen Stube. Sarah vermisste unterschiedliche Tiegel für Saucen, Brühe und Brei, schönes Essgeschirr und weiße Leinenvorhänge an den Fenstern, die sich sanft im Wind blähen konnten. Sonst aber fehlte Sarah kaum etwas. Schließlich gab es Schweine, Kühe und Hühner auf dem Hof, und sie hörte deren Laute.
    Es waren vor allem die schnellen harten Augen der Witwe, die keineswegs weicher wurden, wenn am Ende fast jedes Satzes »mit Gottes Gnade« aus dem schmalen Mund kam, die Charlotte jeden Tag schon früh am Morgen ins Freie trieben. Das Atmen fiel ihr mittlerweile schwerer, und das Kind schien schon weit nach unten gerutscht zu sein. Sie packte sich Brot und Speck ein, Wasser, das wusste sie inzwischen, gab es überall genug. Von der Hausarbeit hatte sie sich mit drei Gulden freigekauft, die Barbara Yoder schnell in ihrer an einem Taillenband hängenden Tasche hatte verschwinden lassen.
    Geld hatte diese Charlotte mit den lila Strümpfen anscheinend reichlich, ebenso wie Kisten und Koffer voller überflüssigem Kram, das war der Witwe schon am zweiten oder dritten Tag nach der Ankunft der Pfälzer aufgefallen. Dachte diese Frau, man könne sie, Barbara Yoder, die schon mit zehn gelernt hatte, Schlangen, die angelockt von der Wärme ins Haus schlüpften, zu fangen, aufzuschneiden und ihnen die Haut abzuziehen, mit solchem Blendwerk hinters Licht führen? Eine Hure war sie, nichts anderes. Aber auch Huren sollten ihre Kinder sicher zur Welt bringen. Denn Kinder waren immer Gottes Kinder. Barbara biss in jede der Münzen, die ihr Charlotte gegeben hatte, und prüfte, ob sie echt waren. Dann steckte sie sie zwischen das Stroh ihrer Matratze. Sie wollte, bevor es schneite, für ihre Söhne Stiefel kaufen.
    Immer wenn Charlotte die drei Reihen noch recht kleiner Apfel- und Pfirsichbäume und den Grabstein, unter dem Aaron Yoder begraben war, hinter sich gelassen hatte und einen Hang hochgeklettert war, ruhte sie sich noch eine Weile am oberen Feld aus. Dort pflügte Samuel mit seinen beiden Pferden. Unbeirrt zog er Furche für Furche und bemerkte sie nicht. Einmal kam sie dazu, wie er gerade auf einen Wurzelstock, den Aaron Yoder bei der Rodung im Boden übersehen hatte, stieß. Zuerst trieb er mit der stumpfen Seite seines Beils einen eisernen Haken in den knapp aus dem Boden ragenden Baumstumpf. Kraftvoll rollten seine Schultern nach hinten, die Blätter wölbten sich unter der Jacke, beide Arme flogen hoch, holten weit aus und rammten dann einen einzigen großen Schlag nach unten. Dabei flog ihm der Hut vom Kopf, und die Herbstsonne ließ sein braunes Haar aufflammen. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Offensichtlich steckte der Haken noch nicht tief genug, jedenfalls holte Samuel noch einmal aus. Kleine, harte Schläge prasselten in den Morgen, die Grobschlächtigkeit tat der federnden Eleganz seiner Körperbewegungen keinen Abbruch, im Gegenteil. Charlotte konnte nicht aufhören, ihm zuzuschauen, und musste sich im nächsten Moment auf die Lippen beißen, um nicht laut zu lachen, denn der schwarze Hut torkelte auf ganz und gar unamische Art und Weise über das Feld. Samuel schien ihn vergessen zu haben und hämmerte unverdrossen weiter. Sie fand, dass er zu diesem Land passte. Seine Zähigkeit und sein gottergebener Optimismus würden ihn noch mit vielen Baumwurzeln und manch anderem fertig werden lassen. Während das Kind in ihrem Bauch strampelte, klammerte sich Charlotte mit beiden Händen an die rissigen Zaunpfähle, um diesen Anblick Samuels für immer in sich aufzusaugen. Dass er ganz mit seinem Tun eins war, machte sie froh und öffnete ihr Herz weit für alles, was sie sonst um sich herum sah. Auf dem Schiff hatte sie nicht daran gedacht, ihm das Versprechen abzuverlangen, dass er sich niemals änderte. Er sollte bei seinem eifersüchtigen Gott der

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