Der elektrische Kuss - Roman
Kleeäcker und des Stallviehs bleiben. Er sollte stur und ohne Zweifel seinen Weg gehen. Weil dieser Samuel damit zumindest einen gewissen Teil ihrer eigenen Fragen beantwortete und einige andere überflüssig machte. Seit sie ihn kannte, war sie zur Ruhe gekommen und brauchte sich nicht mehr neu zu erfinden.
Sie sah ihm noch zu, wie er eines der Pferde, einen kleinen, aber kräftigen Apfelschimmel, vom Pflug abspannte und das Seil ziehen ließ, das er an den Eisenhaken geknotet hatte. Stück für Stück brach die Erde auf, und eine mächtige Wurzel quälte sich an die Oberfläche. Samuel tätschelte das Pferd, das er sicher nie so wie Älbli lieben würde, mit dem er aber vorhatte, eine kleine Zucht zu beginnen. Hier oder an einem anderen Ort in Pennsylvania. Als der Stock weit genug aus der Erde ragte, begann er, die Wurzeln einzeln abzuhacken.
Kleine Schleierwolken trieben über den tiefblauen Himmel. Erst als der Strunk komplett zerlegt, sein Haar verschwitzt und zerzaust war und die Sonne noch höher stand, suchte Samuel seinen Hut. Beim Bücken entdeckte er endlich Charlotte. Intuitiv begriff er, dass sie ihn schon länger beobachtet hatte. Wieder hob er die Arme. Halbhoch und weich dieses Mal, sein Mund öffnete sich und seine Zähne blitzten über dem Bart. Das Licht blendete ihn, als er zu ihr hinschaute. Charlotte begriff, dass es noch einen triftigen Grund gab, warum er nach Amerika hatte kommen müssen. Nirgendwo sonst würden Wälder die Farbe seines Bartes annehmen. Alles ergab einen Sinn.
Nichts hätte sie lieber getan, als mit ihrem schweren schwankenden Bauch zu ihm hin zu eilen und sich in seine Arme zu werfen. Stattdessen winkte sie nur freundlich aus dem Handgelenk und setzte ihren Weg in den Wald fort. Dabei fiel ihr auf, dass auf den Wiesen keine Herbstzeitlosen blühten wie um diese Jahreszeit in der Pfalz.
Manchmal griff sie auf einem ihrer Spaziergänge in eine der Lianen, die sich die Stämme hochwickelten, und hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran, um auszuprobieren, wie viel sie aushielten. Bislang war nie eine gerissen. Die Vielgestalt der Bäume hatte sie vom ersten Moment an fasziniert. Nicht nur, weil es in der Pfalz wenig Wälder gegeben hatte, schon gar keine Urwälder, wo jeder so viel jagen und Holz holen durfte, wie er mochte, ohne dass eine Obrigkeit ihn dafür auspeitschen ließ. Jeder einzelne Baum ließ Charlotte staunen. Es gab welche, deren Kronen so weit oben saßen, dass ihre kurzsichtigen Augen sie nur als schwimmende grüne Wolken einfangen konnten. Schon bei ihrem ersten Ausflug war ihr die graue, besonders schorfige Rinde aufgefallen. Die Furchen waren so tief, dass ihr Finger, wenn er ihnen nachfuhr, darin verschwand. Versonnen zwirbelte sie eines der Blätter. Es war von den Umrissen fast quadratisch, mit vier, manchmal auch sechs Zacken. Die meisten hatten sich leuchtend gelb verfärbt. Aber sie fand ein paar, deren Oberseite noch grün war und die nach Lorbeer rochen. Nadelbäume interessierten sie nicht.
»Tulpenbaum«, brummte die Witwe, als Charlotte ihr an einem Nachmittag eines der Blätter unter die Nase hielt, während sie gerade Teig ausrollte. Eine Frau, die dem lieben Gott seinen Tag stahl, indem sie allein durch den Wald streifte, anstatt die Hemden und Mützen für ihr Kind zu säumen, war der Witwe ein Graus, und sie machte keinen Hehl daraus. Widerwillig rückte sie mit der nächsten Auskunft heraus:
»Schlechtes Holz, bricht leicht. Die Indianer nennen es Sassafras. Meine Mutter hat aus der Rinde einen Tee gekocht.«
»Und die Blätter?«
»Weiß nicht.«
Der Teig wurde dünner und dünner gewalzt, bis die Maserung des Tisches durchschimmerte.
»Du solltest die Früchte vom Pawpaw-Baum sammeln und mit nach Hause bringen. Dann tätest du was Nützliches.«
»Aha. Riechen die gut?«
Die Witwe blinzelte irritiert.
»Weiß nicht, aber sie machen satt. Das haben uns die Indianer beigebracht. Bauchig sind sie wie kleine Kürbisse, und braun, daran erkennst du sie. Custard-Äpfel sagen wir.«
Ein Ellbogen, der trotz des Rehfleisches, das es jetzt fast täglich zum Abendessen gab, spitz geblieben war, kam ihrem Bauch gefährlich nah, sodass Charlotte mit dem Rest ihrer Blätter die Küche schleunigst wieder verließ. Durch Zufall fand sie heraus, dass, wenn man Sassafrasblätter zerpflückte, ein dunkler, würziger Duft ausströmte. Samuels Nacken, Samuels Lenden, deshalb roch sie sich tief hinein. Dann ließen die rollenden Wogen des
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