Der elektrische Kuss - Roman
festen schweinsledernen Stiefeln mit gut genagelten Sohlen. Barbara schluckte. Auch ihre beiden anderen Söhne hatten solche Stiefel, die ersten in ihrem Leben. Früher hatte das Geld immer nur für Aarons Schuhe gereicht. Die Witwe schloss die Tür mit einem lauten Knall und schob den Riegel vor.
Charlotte kam nicht umhin, der Witwe dankbar zu sein. In den Seidenstoffen, die sie mitgebracht hatte, wäre das kleine Mädchen, dem sie manchmal den Namen Georgine nach ihrem Vater ins Ohr flüsterte, und eine Stunde später meinte sie, Emma würde besser passen, keine halbe Stunde warm geblieben. Barbara Yoder gab ihr für die Kleine alle Windeln, Hemdchen und Hauben aus Flachs und Wolltuch, die sie besaß. Zuerst schämte sie sich, weil die Sachen so fadenscheinig waren. Dann aber dankte Charlotte ihr so herzlich, dass die Witwe sich auf einmal stolz fühlte. Deshalb sorgte sie auch dafür, dass die junge Mutter jeden zweiten Tag eines der kostbaren Eier zum Essen bekam, die sie im Frühherbst in einen mit Asche gefüllten Krug eingegraben hatte, damit sie sich hielten. Mit großen Augen erfuhr Charlotte, dass Hühner in der Kälte nicht mehr legten. Auch sie selbst fiel in eine Art zärtliche Apathie. Außer ihr Kind zu stillen und zu beschnuppern, interessierte sie nichts mehr. Auch Samuel rückte in den Hintergrund. Mechanisch schluckte sie den Suppawn, den dicken Brei aus gekochtem, zerdrücktem Mais und Milch, den Barbara täglich kochte, denn das Fleisch musste gestreckt werden, während es Samuel und Sarah noch immer Überwindung kostete, die süßliche Pampe hinunterzuwürgen. Doch Mais, das hatten sie inzwischen wie so vieles andere von Barbara gelernt, war sehr nahrhaft.
Während der kurzen hellen Stunden schabte Charlotte hin und wieder den Reif ab, der sich innen an die Fenster legte, aber nur, um festzustellen, dass draußen alles gleich blieb. Stumm und weiß bis zur Scheune und von dort weiter bis zu den Feldern und immer weiter. Wie der Wald mittlerweile aussah, konnte sie sich nicht mehr vorstellen. Nur die Fußstapfen Samuels zwischen Haus und Stall zogen noch eine verlässliche Spur und verschafften dem Blick ein wenig Abwechslung. Aber auch die verschwand rasch, wenn es wieder schneite. Starrte man lang genug in das Schneetreiben, dann verwandelte sich das wirre Rieseln in ein starres Muster aus Punkten, das Oben und Unten, der Himmel und die Erde wurden austauschbar.
Und wie bereits auf der »Good Intent« erlebte Sarah die Heftigkeit der Natur, die es in der Pfalz nicht gegeben hatte, so voller innerer Hingabe wie das Konzert eines großen Streichorchesters, von dem sie keine Ahnung hatte und das sie auch nie besuchen würde. Immer wieder riegelte sie die Tür auf, spähte hinaus und ließ sich den eisigen Wind ins Gesicht blasen. Charlotte dagegen kümmerte sich um nichts, was um das Steinhaus herum geschah. Solange die Kaminwand in ihrem Rücken warm war und das fiepende und beißende kleine Katzenmaul sich an ihrer Brust festsaugte und zügig trank, war ihr an diesem ersten Winter in Amerika alles recht. Seine Tage unterschieden sich durch nichts, und seine Eintönigkeit verlangte von Charlotte nichts als reine Liebe. Die Elektrisiermaschine ruhte in ihrer Kiste in der hintersten Schräge des Dachraumes.
Während ihrer Anwesenheit war die Gemeinde der Amischen schon zweimal im Haus der Witwe Yoder zum Gottesdienst und anschließendem Essen zusammengekommen. Sie wussten von der Existenz der Frau von draußen aus der Welt, die nicht nach der Ordnung lebte und ihren Mann, Gott sei seiner Seele gnädig, auf dem Schiff verloren hatte, doch die Amischen ignorierten sie. Und Charlotte hatte sie ignoriert und im oberen Stockwerk so lange gewartet, bis ihre langsamen, weinerlichen Lieder, langatmigen Predigten und das Schmatzen und Tellerklirren verklungen waren und sie von der Dachluke aus zuschauen konnte, wie die schwarzen Hauben und Bärte wie große unbeholfene Vögel davonflogen.
Bei ihrem dritten Besuch aber stiegen sie die schmale Treppe hoch. Langsam, wichtig, räuspernd und hüstelnd, mit einer ernsten Aufgabe. Einer nach dem anderen. Die Männer zuerst, dann die Frauen und hinter ihnen, sehr gehorsam und zahlreich, die Kinder. Samuel stellte sie dem Ältesten der Gemeinde vom Maiden Creek vor. Dieser trug eine Brille, war nicht sonderlich alt, sein Bart aschblond und dicht. Er beugte sich tief über das Kind und beäugte es so eingehend, wie er jedes Kalb in seinem Stall beäugte, nachdem
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