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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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sie dir erst gar nicht an.«
    Sie sprachen nicht mehr weiter über die Witwe Yoder, weil sie überhaupt nicht mehr redeten. Jakob schnorchelte durch die Nase, drehte und räkelte sich ein paar Mal im Schlaf. Durch die Ritzen hörten sie noch gedämpfte Laute, einer der Yoder-Jungen weinte kurz, dann wurde es ganz still. Sarah blieb offenbar die Nacht unten und Samuels Hand auf der ihr vertrauten Brust. Charlotte schlief darüber ein, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, war Samuel längst im Stall. Sie sagte sich, dass sie stolz auf sich sein konnte, weil sie Samuel nicht in ihr Bett gezogen hatte. Dass Sarah vielleicht etwas ahnte und ihnen eine letzte Gelegenheit hatte verschaffen wollen, kam ihr erst in den Sinn, als sie schon wieder im Wald war. Erst dann weinte sie.
    Bei ihren Ausflügen verfing sich ihr schwerer Rock oft in Dornen und riss ein, was sie nicht störte. Bald würde sie wieder andere Kleider tragen, schöne Kleider, bunte Kleider. Irgendwo, wenn sie nicht mehr auf dieser Farm war. Nachdenklich zupfte Charlotte ein unscheinbares, noch nicht verfärbtes Blatt ab, drückte es an die Nase, stolperte seinem frischen Citrusduft hinterher. Einmal rutschte sie auf einer Platte frischer Nüsse, groß wie Äpfel, aus und stand schwerfällig wieder auf. Sie knackte eine Nuss, holte das Innere heraus, knabberte dran, spuckte es in hohem Bogen aus. Sie erkannte Birken als Birken und Eschen als Eschen. Dann tastete sie sich an einer Rinde entlang, fast weiß, die in großen Flecken aufsprang und sich häutete. Dafür waren die Blätter ganz simpel, dreieckig, nichts Besonderes. Das nächste Exemplar der gleichen Art hatte einen dickeren Stamm, als sie je einen auf der Welt gesehen hatte. Obwohl sie nicht sicher war, ob sie ihren Bauch wieder würde hochhieven können, ließ sie sich auf den Boden sinken, genoss den glatten breiten Baum im Rücken.
    Wäre ich ein Hund, schoss es Charlotte durch den Kopf, würde ich hier verrückt. Denn alles um sie herum roch. Wobei die Gerüche in Wellen kamen, aufputschend hochschwappten und dann wieder betäubend abebbten. Moder, Kadaverparfum, vergorene Beeren, Harz, Bitterwurzeln, aufgesprungene, purpurfarben tropfende Früchte, Blätterhumus, stehendes und springendes Wasser. Überall berührungslose Berührung. Sie hatte früher nicht im Geringsten gewusst, wie Wald sein konnte, umso mehr machte sie ihr neu erworbenes Wissen glücklich.
    Das Puderkabinett ihrer Mutter im Kirchheimer Schloss fiel ihr ein. Ein kleiner, merkwürdig dreieckiger Raum, vom Boden bis zur Decke mit grauen Holzpanelen verkleidet, fensterlos. Eine Tür führte zum Schlafzimmer, eine zweite für die Diener zum Gang. Auch dort vermengten sich viele Gerüche so dicht, dass man sich in ihnen verstecken konnte, so lange, bis man sich vollends vergaß. Italienischer Reispuder, Schweiß, der in ungewaschenen Unterröcken klebte, der nicht geleerte Nachttopf unter dem Sessel, Orangen, die mit Zimtnelken gespickt waren, unzählig nachlässig geschlossene Flakons, denen »Venezianische Venus« oder »Plaisirs d ’ amour« entströmte. Es war Jahre her, dennoch sah Charlotte genau vor sich, wie sie ihre Mutter in diesem Raum beobachtet hatte: Die Frau, die sonst pausenlos auf dem Sprung war, hockte halbnackt auf dem Boden, ungeschminkt, fingerte Flusen aus ihrem Nabel, schlang dann die Arme um die Knie, endlich einmal unbeschwert. Der Wald bot ähnliche Freiheiten. Hier gab es keine Zeit. Jedenfalls keine, die vorwärtsging und sich mit Zeigern messen ließ. Vielleicht war sie dieser anstrengenden Frau ähnlicher, als sie bislang gedacht hatte. Charlottes gewölbter Leib hätte in seiner schwarzen Stoffhülle auch ein besonders großer Pilz oder Laubhügel sein können und fiel deshalb in der Wildnis nicht auf.
    Wenn sie der Mutter ähnlich war, was würde dann aus ihrem Kind? Charlotte spreizte die Hände, legte sie sacht auf ihren Bauch und spürte das Strampeln und Zucken. In ihre Freude mischte sich eine jähe Sorge. Ja, was sollte aus ihrem Kind werden? Einen Vater gab es nicht. Der könnte es also nicht einfach so vergessen, wie damals ihr eigener Vater sie über Wochen vergessen hatte, als sie eine Lungenentzündung gehabt hatte. Für eine Weile wanderte Charlotte in Gedanken durch ihr früheres Zuhause, sah wieder den Putz von den Wänden platzen, die zerschlissenen Vorhänge, roch den Hundekot in den Ecken. Sie schloss die Augen.
    Ihr Kind würde nur eine Mutter haben. Aber welche? Eine, die

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