Der elektrische Kuss - Roman
Tagesanbruch auf.
In der Hoffnung, seinen Kopf durchzulüften, stand er zügig auf und wanderte durch die Dunkelheit. Bis hinunter zum leisen Plätschern des Cocalico. Dort stand er lange, lauschte und dachte über vieles nach. Schließlich auch über die Witwe Yoder. Eggte er nach seiner Rückkehr ihre Felder und säte sie ein, dann brauchte Barbara auch einen Mann, der später das Getreide schnitt und im Winter drosch. Einen, der ihren Söhnen beibrachte, wie man die Sichel gebrauchte, einen Pflug gerade und tief genug führte, einen Stier zur Kuh brachte, mit einem Gewehr auf die Jagd ging und bei allem die amische Ordnung einhielt, in Gottesfurcht und Gelassenheit. Vom Fluss stieg Kälte hoch und drang durch seine Kleider, was Samuel guttat. Beim Licht der ersten Morgenröte beobachtete er das schnell fließende Wasser und fragte sich, ob sich die Brüder und Schwestern in diesem Wasser taufen ließen? Ein rätselhafter Ort dieses Ephrata. Ein Kloster hatte es Kolb gestern beim Essen genannt. Aber vielleicht hatte er sich auch verhört, so müde wie er gewesen war. Kloster! Energisch trat Samuel den Rückweg zu seiner Unterkunft an. Fest entschlossen, sich für die Gastfreundschaft und das Nachtlager zu bedanken, sein Pferd zu holen und den › Märtyrerspiegel ‹ hinter sich auf dem Sattel festzuschnallen. Auf dem Ritt zurück würde er endgültig über die Witwe Yoder nachdenken und ihr gleich, wenn er auf der Farm angekommen wäre, eine Antwort geben. So oder so.
Beinahe wäre er mit Peter Miller zusammengestoßen, denn es war immer noch nicht richtig hell.
»Samuel Hochstettler, wo warst du? Ich habe dich überall gesucht. Es ist schon nach sechs Uhr, gleich beginnt unser Gottesdienst.«
Obwohl Miller keuchte, denn er war bei seiner Suche schnell gelaufen, entging Samuel der Vorwurf in seiner Stimme nicht. War er jetzt Agrippa? Die blauen Blumenaugen versteckten sich unter der Kapuze.
»Gottesdienst? Aber heute ist doch Samstag. Morgen erst …«
»Wir in Ephrata heiligen den Sabbat, gerade so, wie es uns die Heilige Schrift lehrt. Also komm.«
Ehe sich Samuel versah, saß er neben einem der vielen weißgewandeten Männer am Rande einer langen Bank in einem großen lichten Gebetshaus. Er registrierte, dass es weder Kreuz noch Kanzel gab. Sein mulmiges Gefühl blieb trotzdem. Pennsylvania war ein freies Land, hieß es immer. Also konnte er, Samuel Hochstettler, auf der Stelle aufstehen, schnurstracks hinausgehen und morgen, am Sonntag, so wie jeder anständige Christenmensch, mit seinen amischen Brüdern und Schwestern den Gottesdienst feiern. Dabei fiel ihm ein, dass immerhin auch die katholischen Nachbarn von Kolb sonntags, aber eben sonntags, die Arbeit ruhen ließen. Samuel blieb sitzen.
Denn mittlerweile drang etwas an sein Ohr, das ihn bewegungslos machte. Stimmen. Nein, himmlische Stimmen. So süß und hoch, dass sie nicht menschlich sein konnten. Die Stimmen schwebten zu einem Gesang zusammen, aus dem hin und wieder einzelne deutsche Wortfetzen zu ihm hinuntertropften. Die Lieder als solche aber stiegen hoch und höher ins Gebälk des Saals und von dort durchs Dach, um sich mit den Wolken zu vermischen. Sie nahmen Samuel mit, und sein irdisches Gepäck blieb auf der Holzbank liegen. Es dauerte lange, bis er verstand, dass die Stimmen von der gegenüberliegenden Seite, von den Reihen der Frauen kamen. Die Schwestern schienen beim Singen kaum den Mund zu öffnen.
Aus diesem Wunder der seidenzarten Töne heraus trat plötzlich ein kleiner Mann mit einem Haselmausgesicht. Er stellte sich vor eine der tragenden Holzsäulen in der Mitte des Saals. Bärtig und weiß gewandet wie die anderen Brüder, aber doch anders als diejenigen, die Samuel bislang kennengelernt hatte. Kaum begann er zu sprechen, verzog sich sein Gesicht zu verrückten Grimassen. Einen Moment später entspannten sich seine Züge und er schloss die Augen, doch gleich darauf zuckte es in ihm wieder, und er streckte die Arme aus und ruderte und fuchtelte mit ihnen durch die Luft, während die Geschichte, in der Abraham mit Gott um die Erhaltung der sündigen Stadt Sodom feilscht, weich wie Honig aus seinem Mund floss. Eine Geschichte, die Samuel bestens kannte. Jeder amische Prediger konnte solche Bibelstellen ohne zu stocken und ohne Gezappel aus dem Handgelenk schütteln. Auf eine gewisse Weise erfüllte das Samuel mit trotziger Genugtuung gegenüber Ephrata. Umso mehr erschreckte ihn aufs Schlimmste, was sich als nächstes vor
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