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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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gestellt hatte, stiegen die pfeifenden Atemzüge ihrer Tochter auf. Mit ihnen im Ohr schlief sie schnell wieder ein.
    Es kam der frühe Morgen, an dem sich die Witwe Yoder auf einen der beiden grob gezimmerten Stühle setzte, die zu dem Tisch und der Bank in der Stube gehörten, und ihre senfgelben schweißigen Strümpfe, die sie monatelang getragen hatte, auszog. Bedächtig bewegte sie ihre Zehen und betrachtete sie eingehend, so als wollte sie sicherstellen, dass noch alle zehn vorhanden waren und funktionierten. Mit dem Ergebnis schien sie zufrieden zu sein. Jedenfalls stand sie mit einem Mal ruckartig auf, schlüpfte in Holzpantinen und schlurfte hinüber zum Stall, um auch ihre Kühe und Schweine zu inspizieren. Ihre nackten Füße waren ein Signal.
    Das Leben änderte sich schlagartig und verlagerte sich aus dem dunklen, engen Steinhaus ins Freie. Damit wurde die ellenbogenspitze Geringschätzung zwischen Charlotte und Barbara endgültig überflüssig wie die harten Filzrollen, mit denen sie im Winter den Spalt unter der Haustür und die Fensterritzen abgedichtet hatten. Zuerst schleppten die Frauen die Matratzen samt Bettzeug hinaus, und das muffige Stroh saugte sich einen Tag lang mit praller Sonne voll. Anschließend durften die Kinder halb nackt herumspringen, denn die schmutzigen Kleidungsstücke, und das waren eigentlich alle, wurden zusammengesammelt und vor dem Haus auf einen Haufen geworfen. Dann tauchten sie die Hemden, Röcke und Hosen in einen Bottich mit heißem Wasser, rieben sie mit den letzten Resten der Seife, und als die aufgebraucht waren, auch noch mit Säckchen, in die sie gesiebte Asche aus dem Herdfeuer füllten. Sie schlugen die Wäschestücke ein ums andere Mal gegen ein Brett und wrangen mit solcher Lust, dass ihre Haut aufquoll und ihre Fingernägel einrissen. Als sie schließlich die nassen Kleider auf die Leine, die Samuel zwischen einem Ast des Baumes und dem Stall gespannt hatte, hängten, half Charlotte gönnerhaft mit. Nach der Wäsche zog sie die dunklen Täuferkleider allerdings nicht mehr an, sondern schlüpfte in ein taubenblaues Kleid aus bedrucktem Stoff. Sie drehte sich mehrmals im Kreis, denn sie hatte fast vergessen, was es für ein Gefühl war, wenn der Rock schwang und warmen Wind zu den Schenkeln hochwirbelte.
    Sarah und Barbara krempelten ihre Ärmel erst gar nicht mehr herunter. Weil der Garten zu klein war, um ausreichend Gemüse und Kräuter zu liefern, legten sie weitere ebenerdige Beete an und Hochbeete, die später mit Weidengeflecht eingefasst werden sollten. Ihre Rücken brannten, während sie in der Erde wühlten und schaufelten, aber sie lachten dabei. Trotz ihrer Hauben bekamen ihre Gesichter bald einen rosigen Schimmer, und Sarahs Sommersprossen blühten auf wie die zahllosen winzigen Wildblumen an den Hängen. Sie bohrten Löcher, streuten Samen ein, klopften fest, pflanzten und wässerten, bis ihre Lippen austrockneten und ihre Gesichter vom vielen Schweißabwischen braun verschmiert waren.
    Als Nächstes ging die Witwe daran, einen Dünger anzusetzen. Mit bloßen Händen griff sie in Brennnesselbüsche, riss, ohne zusammenzuzucken, Blätter samt Stielen heraus und stopfte sie in einen Eimer. Immer mehr, immer mehr. Ihr fiel wieder ein, wo die fleischigsten wucherten, nämlich gleich hinterm Stall. Abgehärtet gegen Schmerzen drückte sie die Pflanzen fest nach unten, damit Platz für noch mehr würde. Als wirklich keine Brennnesseln mehr hineinpassten, ließ sie aus dem Brunnen so viel Wasser dazu laufen, bis es den Rand des Eimers erreichte. Das Ganze deckte sie mit einem Brett ab. Charlotte beobachtete sie bei dieser Arbeit und ertappte Barbara Yoder, wie sie unbeschwert und fast schön aussah. Die eckigen Züge ihres Gesichtes und der grashalmschmale Mund weichten so weit auf, dass man das junge Mädchen springen sehen konnte, das auf der Farm ihrer Eltern mit Indianerkindern gespielt und am besten den Schrei der Eulen nachahmen konnte und aus Rabenvögeln und Eichhörnchen nahrhafte Pasteten zubereitete. Jetzt, in diesem Moment, müsste Samuel oder ein anderer Mann einen Blick auf sie werfen, dachte Charlotte. Dann würde ihnen auch auffallen, dass die braunen Augen der Witwe Yoder warm wie geröstete Kastanien waren, die ihnen an langen Winterabenden guttun würden. Aber schon nach einer halben Stunde schob sich wieder ein Schatten von Barbaras Stirn bis hinunter zu ihrem kleinen Kinn. Der Eimer mit dem Brennnesselsud wurde gleich neben der

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