Der elektrische Kuss - Roman
seinen Augen abspielte.
Eine Frau stand auf, rutschte aus ihrer Bankreihe, ging mühsam, aber aufrecht vor und stellte sich genau an die Stelle, wo eben noch der Prediger gestanden hatte. Samuel blinzelte verstohlen durch die Männerreihen. Aber nichts regte sich, keiner protestierte oder stand im Zorn auf. Was hätte der Älteste zu Hause wohl gesagt? Samuel wagte es sich gar nicht vorzustellen. Dann fing die Frau auch noch an zu reden, laut und furchtlos. Davon, dass auch sie einmal mitten in der Stadt Sodom gelebt habe, die allerdings in ihrem Leben Sheffield heiße und in England liege. Wie ihr Herz hin und her gerissen worden sei zwischen Abscheu, Mitleid und einer großen Sehnsucht. Die Stimme der Frau, Samuel schätzte sie um die fünfzig, wurde brüchig. Und sie wiegte sie für ein paar lange Augenblicke hin und her, bevor sie weitersprechen konnte. Ganz allein sei sie damals gewesen, denn auch ihr Mann und ihre Mutter gehörten zu den Verderbten.
»Sogar zu den ganz Schlimmen«, gestand die Frau schluchzend. Aber wer wisse dort in der Alten Welt überhaupt noch so recht, was Sünde sei und was nicht. Warum sich Gottes Wille offenbare und dann wieder verdunkele. Gott habe die Alte Welt verlassen, da sei sie sich mittlerweile sicher. Alle auf den Bänken, egal ob Mann oder Frau, seufzten tief und nickten.
»Dann aber … es war ein Dienstag, und es regnete in Strömen, ich weiß es noch wie heute, besuchte er mich. Die Hühnersuppe, die ich gerade kochte, brannte an, denn seine Worte machten mich taub und blind für alles andere. Er sprach sogar bis in mein rechtes Bein hinunter, gegen das einmal ein Pferd ausgeschlagen hatte und das seitdem steif ist. Er hörte mir aber auch zu, so einfältig meine Sätze gewesen sein mögen. Und hinterher, ich sage euch, hinterher …«
Tränen strömten jetzt über das fahle Gesicht der Frau, und sie wischte sie mit ihrem Handrücken weg, bevor sie mit unangenehm schriller Stimme, aber jubilierend zum Ende ihrer Geschichte kam: »… erfüllte mich ein großer Frieden, und ich wusste, dass ich Sheffield verlassen musste. Ich kehrte Sodom den Rücken, ein für alle Mal. Halleluja«
Nach dem Gottesdienst fühlte sich Samuel wie betrunken. Er stolperte in den Morgen hinaus, unschlüssig und unfähig, etwas mit sich anzufangen oder etwas Sinnvolles zu sagen. Die Männer und Frauen von Ephrata zerstreuten sich rasch. Sie wirkten noch müder als am Abend zuvor. Aber auch andere, die nicht weiße, sondern alltägliche Kleidung wie er trugen, strömten schnell aus dem Versammlungshaus und an ihm vorbei. Es war wieder Peter Miller, der ihn am Ärmel zupfte, seine Kornblumenaugen blitzten auf.
»Komm, Samuel, Conrad Beisel möchte dich kennenlernen, bevor du fortreitest.«
Wieder ging Samuel mit.
Der kleine Mann, der mit all seinen Gliedmaßen von Abrahams Handel um Sodom mit Gott erzählt hatte, saß jetzt vollkommen ruhig auf einer Bank und lehnte sich an die Wand eines kleinen Hauses. Sein Mund stand offen, und er schien unter den Sonnenstrahlen zu schlafen. Samuel bekam von Millers Blumenaugen ein Zeichen, sich zu setzen. Eingerahmt von beiden, fragte er sich, was sie von ihm wollten. Aber lange Zeit sagte niemand ein Wort. Bis es Samuel nicht mehr aushielt und mit dem herausrückte, was ihm keine Ruhe ließ und in ihm aufstieß wie unverdautes Bohnengemüse.
»Die Frau vorhin beim Gottesdienst. Ich meine, warum durfte sie sprechen?«
»Weil selbstverständlich auch Frauen, die Gott in sich gespürt und gefunden haben, davon erzählen dürfen, ja, sogar müssen. Weil an einer so großen Freude alle teilhaben sollen, besonders die, die noch nach der persönlichen Vereinigung mit dem Herrn streben und sie aus ganzem Herzen herbeisehnen.«
Nur Conrad Beisels Knie zitterten etwas, während er mit Samuel sprach.
»Persönliche Vereinigung?«
Beinahe verschluckte sich Samuel an den beiden Worten.
»Aber die suchen wir doch alle! Du doch auch, Samuel.«
Davon hatte Samuel noch nichts gewusst. Aber er widersprach auch nicht. Leise und trotzdem beharrlich fuhr Beisel fort:
»Wir brauchen keinen Prediger, keinen Priester, im Grunde sogar keinen Gottesdienst. Nur Er und der einzelne Mensch müssen zusammen kommen.«
Er hielt inne und seufzte.
»Da, Samuel, hör mir genau zu, wir Seine Geschöpfe sind, können wir Ihn auch unmittelbar erreichen. Jeder für sich, egal ob Mann oder Frau. Er versteht uns von innen, von unseren Gedanken und Träumen her. Wenn wir uns Ihm nur
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