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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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mit allen unseren Sinnen nähern. Und nun sag uns«, und damit drehte sich Beisel Samuel so zu, dass dieser das schnelle Atmen der Haselmaus an seinem Ohr spüren konnte, »ob du Gott schon einmal zu Besuch gehabt hast?«
    Die Wärme der Sonnenstrahlen breitete sich auf Samuels Gesicht aus. Er schloss die Augen. Er konnte sich Zeit lassen. Das Sägewerk, die Mühlen und die Buchdruckerei schwiegen. Ach ja, sie hatten ja ihren Sabbat. Dafür hörte er deutlicher die Vögel singen. Bald würden sie Nester bauen. Jedenfalls nahm Samuel an, dass auch in der Neuen Welt die Vögel um diese Zeit im Jahr anfingen, ihre Nester zu bauen. Deshalb begann er seine Geschichte auch mit dem Wachtelkönig. Der damals in der Pfalz über eine violett schäumende Wiese gerannt sei, während er die Anwesenheit Gottes gesehen habe. Als nächstes erzählte Samuel den beiden von la girafe und ihrem langen gefleckten Hals, und dass das französische Buch ja wohl auch kein Zufall gewesen sein könne. Dann schwieg er eine Weile und saugte die Sonne in sich ein, bevor er die Rede schließlich auf Charlotte brachte. Die mit offenem Haar und anderen verderbten Angewohnheiten in sein Leben eingedrungen und seinem Sohn das Leben gerettet habe. Samuel verschwieg nicht, was sie auf dem Schiff für seine Tochter Sarah getan hatte, und in wenigen, dürren Andeutungen, aber auch wieder deutlich genug, dass sich Beisel und Miller einen Reim darauf machen konnten, gestand er den beiden Männern auch, was zwischen Charlotte und ihm in den Nächten unter den Segeln passiert war. Als das alles aus ihm heraus war, zwitscherten und flatterten die Vögel geschäftiger denn je. Samuel kniff die Augen zusammen und beobachtete sie. Es war Peter Miller, der als Erster das Wort ergriff.
    »Wenn mich nicht alles täuscht, würde dieses Fräulein von Geispitzheim von den chassidischen Juden als eine der Gerechten bezeichnet werden. Derentwegen Gott die Stadt Sodom dann doch nicht zerstört hat.«
    Beisel ließ sich etwas mehr Zeit. Der kleine Mann saß weiter ruhig da, bohrte allerdings den rechten Zeigefinger zunächst tief in seine Nase und stocherte dann mit ihm in seinem buschigen grauen Bart herum, als ob er dort etwas aufbewahren und jetzt suchen würde. Bis er schließlich mit piepsiger Stimme meinte:
    »Samuel, mir scheint, dass bei dir das große Erwachen begonnen hat. Du hast dem Herrn die Tür schon aufgeschlossen und viele Zeichen von ihm erhalten. Jetzt musst du die Tür nur noch ganz weit aufstoßen, damit er dich besuchen kann.«
    Der Frühling fiel auf Pennsylvania wie ein Stein. An einem der ersten Aprilmittage wurde es heißer als in der Pfalz im Juli. Die Hitze blieb und blähte sich auf. Sie konnten dabeistehen und zusehen, wie das Gras zu ihren Füßen wuchs und fettig grün wurde. Aus dem namenlosen Baum neben dem Haus der Witwe Yoder schoben sich innerhalb einer Woche alle Blätter, schmal und spitz zulaufend. Die Hühner zupften daran, wenn sie nicht gerade schliefen. Und die Menschen waren bald froh über den Schatten, den die Krone warf.
    Nach vielen Monaten roch die Luft wieder. Anders, ganz anders als in der Alten Welt! Darauf bestand Charlotte. Dort habe man sie hinunterstürzen können wie schwachen Tee. Hier aber … Charlotte rollte mit den Augen und umarmte die Luft mit beiden Armen. Die Witwe Yoder nahm es als Lob auf den Herrn. Durch die Dachschindeln, zwischen denen im Winter Schnee auf ihre Bettdecken gerieselt war und sich gegen Morgen zu kleinen Haufen aufgetürmt hatte, strömte jetzt ein Duft, der Charlotte regelmäßig nachts aufweckte und aus dem sie Thymian und Lauch herauszuschmecken glaubte. Sodass sie schließlich jedes Mal aus dem Bett aufstand und durch die Luke in eine Finsternis starrte, die nicht lange finster blieb, weil Tausende Leuchtkäfer hell zuckende Schleifen und andere buchstabenähnliche Zeichen in sie hineinschrieben. Amerika. Ein Anblick, bei dem ihr unwillkürlich die Elektrizität in den Sinn kam, und sie rätselte, ob diese tagsüber unsichtbaren Tierchen sich mithilfe des Fluidums in kleine Lampen verwandelten. Und wenn ja, ob das aus deren eigenem Antrieb geschah?
    Zu ihrem eigenen Erstaunen brannten diese Fragen aber nicht mehr so stark wie früher. Charlotte atmete noch eine Weile tief ein und aus, bis ihre Lungen schwer wurden. Dann schlüpfte sie zwar betört von den bezwingenden Gerüchen der keimenden Wildnis, aber ruhig und froh zurück ins Bett. Aus der Wiege, die die Witwe ihr zur Verfügung

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