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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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handelt sich schließlich um ein Kind, das unter der Intoleranz zu leiden hat. Diese Leute werden wegen ihrer Religion unterdrückt.«
    Felix verstand nicht gleich. Religion und anderer Aberglauben waren ihm zutiefst suspekt. Wenn es um die Unterdrückung der Gedankenfreiheit ging, wurde er hingegen hellhörig. Aber schon redete Charlotte wieder von einem anderen Übel.
    »Er verträgt offensichtlich keine Muttermilch. Wenn das so weitergeht und er ständig alles erbricht, stirbt er in kürzester Zeit.«
    »Ich bin doch kein Arzt.«
    »Der Himmel bewahre, wenn er einem Arzt in die Hände fällt, stirbt er ja noch schneller«, fauchte Charlotte, griff aber sofort, als sie sah, dass Felix zusammenzuckte, in seine kurzen dunklen Haare und zog ihn an sich heran. Man durfte ihn, das wusste sie, nicht überfordern. Sie wartete eine Weile, bevor sie besänftigend wie eine Kinderfrau auf ihn einsprach:
    »Felix ich meine doch nur, dass ihm geholfen werden muss, damit sich sein Magen und seine Gedärme beruhigen. Die armen Leute kennen sich zu wenig aus. Es gibt immer etwas, man muss nur suchen.«
    »Aber Muttermilch ist die reine Natur. Wenn der Kleine sie nicht verträgt, dann ist er ein Irrläufer, ein Fehler der Natur. Muttermilch ist die ultima ratio. Wie überhaupt die Naturgesetze alles aufs Beste regeln, wenn nur die Fürsten sie respektieren…«
    »Papperlapapp, auch die Natur lässt sich verbessern, wenn es sein muss, auch überholen. Was ich will, ist, dass du mir in der Bibliothek hilfst, nachzuforschen. Ohne dich, mein Schatz, schaffe ich es nicht. Du würdest auch noch die passenden Bücher finden, die der spanische Großinquisitor braucht, um die Hinrichtung des Papstes zu begründen …«
    »Charlotte, dein Spott ist heute plump und deshalb unerträglich…«
    Trotzdem musste Felix lachen und fühlte sich, genau wie es beabsichtigt war, geschmeichelt.
    Sie steuerten den hintersten, kaum einsehbaren der zierlichen, weiß und gold gefassten Tische an. Mit deckenhohen, lückenlos bestückten Regalen als dämpfende, langsam, aber stetig nachwachsende Hecken gegen den Lärm und die Langeweile der Welt in ihrem Rücken. Die trockene Luft reizte wie immer Charlottes Kehle. Auch der alte, ungepflegte Herr, den sie nicht kannte und der am anderen Ende des Raums über einem Folianten gebeugt saß und gegen sie von Zeit zu Zeit ungnädige Seitenblicke schleuderte, hüstelte und räusperte sich in dem melodischen Rhythmus, den nur Bibliotheksbesucher beherrschen. Wie fast immer, wenn sie an diesem Ort war, fühlte Charlotte auch jetzt wieder eine Last von sich abfallen. Aus Millionen von Buchseiten streckten sich ihr Arme zärtlich entgegen. Von holländischen Botanikern, die im Auftrag ihrer mächtigen Kaufmannsstädte die Pflanzenwelt fremder Inseln und Küsten beschrieben und gezeichnet hatten; die gebräunten Arme junger Mönche in provenzalischen Klöstern, deren brennender Hunger nach Gott goldene Majuskeln wie Monster auf feinstes Pergament gemalt hatte; auch die von fleißigen, mittelmäßigen Dichtern an kleinen deutschen Höfen, römischen Geschichtsschreibern im Dienste des Imperiums und auch die Arme von solchen, die schon seit sechs Generationen nicht mehr aus den Regalen geholt und deren Namen vergessen worden waren, nahmen sie in ihre Obhut. Sie ließen sie auf ihren Schoß klettern. Sogar die hochmütigen Prägungen auf den Bücherrücken rückten zusammen und wärmten sie. Je mehr ihr eigenes unruhiges Ich in Sicherheit gewiegt wurde und dösen konnte, desto unbeschwerter wandte sie sich der Hilfe für ihre Freundin und den kleinen kranken Wurm zu.
    Zunächst gingen sie die Reihen ab, in denen die Bücher zum Thema Anatomie, Pharmazie und Heilkunst standen. Felix verschob die Leiter, kletterte hoch, reichte ihr den einen oder anderen Folianten, den Charlotte dann zu ihrem Tisch schleppte. Sie blätterten zunächst wahllos, lasen quer, machten Notizen zu Tinkturen und Tees, die bei Blähungen empfohlen wurden. Hin und wieder vertieften sie sich in einen Aufsatz über die Funktion des Magens und das Wirken der Verdauungssäfte. Der Stoß der Bücher, den sie ohne wesentlichen Fund zur Seite schoben, wuchs. Felix rückte erneut die Leiter, stieg hinauf und hinunter, so dass Charlotte zur Abwechslung seine außergewöhnlich wohl geformten Waden auf Augenhöhe hatte. Mehr und mehr Bücher türmten sich auf dem Tisch, und Kerzen wurden angezündet. Irgendwann ging Charlotte auf den noch immer verwaisten

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