Der elektrische Kuss - Roman
ihnen bestand.
Alle, die nahe genug am Podium standen, zum Beispiel die hübsche Enkeltochter, sahen es. Verzückte, zärtliche Seufzer wurden ausgeatmet. Viele spürten das Ereignis eines himmlischen Wunders. Alles Laute, Überdrehte entwich augenblicklich aus dem Saal, selbst die hochmütigen Lakaien in ihren neuen Seidenlivréen lächelten milde.
Ein kobaltblauer, überirdisch schöner Funken mit einem zitternden Goldrand spannte sich nämlich zwischen den Lippen des Fürsten und Charlottes, ohne dass die beiden sich berührten. Einige Damen, alte wie junge, die sonst mit ihren schlimmsten Feindinnen charmante Konversationen führten und jegliche Gefühlsregung unter Kontrolle hatten, fingen an zu weinen. Endlich erfuhren sie, was Liebe in seiner vornehmsten Form war. Blau nämlich und reines Licht. Dass dem Fürsten der elektrische Schlag die Zähne, die er noch hatte, klappern ließ, bekam niemand mit.
Die Frau als Gefäß aller erotischen Fülle und Raffinesse entlud sich mit einer endlich sichtbar gemachten Pracht und Farbigkeit, sobald ein Mann sich ihr näherte. Die Elektrizität machte es möglich, diesen Akt der lustvollen Durchdringung nicht nur wissenschaftlich zu beweisen, sondern ihn auch zu einer künstlerischen Darbietung zu erhöhen. Die Wissenschaft, das war das Geniale, hatte eine blau leuchtende Seele, war überwältigende Schönheit. Ein Höhepunkt der Menschheitsgeschichte, dachte Gräfin Wartenberg und spürte, wie ihr Gesicht glühte und überhaupt ihr ganzer Leib auch elektrisiert wurde. Mit fünfzehn war sie verheiratet worden, bis zum Ende ihrer Ehe vor vier Jahren hatte sie die Beine ein Mal pro Woche breit gemacht, im Gegenzug Pariser Garderoben und ein Stadtpalais bekommen. Ihren Töchtern wünschte sie nichts anderes. Aber dieser elektrische Eros … lautlos liefen Gräfin Wartenberg Tränen über ihr immer noch junges, gut geschnittenes Gesucht, gruben schmale, aber tiefe Täler in die weiße, arsenhaltige Schminke. Der Gräfin war es egal.
Das weibliche Fluidum strömte und strömte, bis der Fürst nach fast vier Minuten ununterbrochener Elektrisierung weit genug zurücktrat und sich mit einem vielsagenden Blick von Charlotte verabschiedete.
Als Charlotte fünf Tage später vom Kirchheimer Schloss zurück nach Hause gebracht wurde, fühlte sie sich müde und ausgelaugt, sie hatte Halsschmerzen, und ihre Nase tropfte. Neben ihr schaukelte in den Polstern der Kutsche eine Holzkiste, in der sorgsam eingewickelt in das silbergraue Kleid die Elektrisiermaschine steckte. Charlotte hatte so viele Monate begierig darauf gewartet, dass sie jetzt merkwürdigerweise das Gefühl hatte, die Maschine könnte warten. Der Kutscher schleppte ihr noch die sperrige Last nach oben in ihr Zimmer. Denn weit und breit war kein Stallbursche zu sehen. Auch ihr Vater blieb verschwunden, was sie aber nicht sonderlich überraschte. Unschlüssig streifte Charlotte deshalb in Richtung Küchengewölbe, denn sie wusste, dass ihr wenigstens die Gerüche nach Essen und Abfällen, das Schimpfen der Köchin und das Lachen der Mägde Geborgenheit geben würden. Aber auch das erwies sich als Trugschluss. Schon in dem feuchten Gang, in dem sonst die Geräusche der Küche hallten, fiel ihr die Stille auf.
Die Mägde und Köchinnen hockten um den langen, sandgescheuerten Tisch, auf dem sich Rübenschalen kringelten, Krautköpfe und schmutzige Schüsseln warteten, dass sie bearbeitet wurden, und blickten nur kurz auf, als Charlotte hereinkam. Um die Hühner, die über dem offenen Feuer brieten, kümmerte sich ein Mädchen, das noch ein halbes Kind und mit der Aufgabe eindeutig überfordert war. Alle anderen waren damit beschäftigt, Lisbeth zu trösten.
»Der Herr von Geispitzheim hätte nie und nimmer erlauben dürfen, dass du zu denen gehst.«
»Man kann nur beten, dass du dir von dem Heidenkind keine Krankheiten aufgeschnappt hast.«
»Du musst aber unbedingt gleich am Sonntag beichten, hörst du, Lisbeth.«
Die Witwe Ammerling, die in der Küche seit Jahrzehnten brummig das Regiment führte, schob Lisbeth eine dicke Scheibe geräucherten Schweinebauch zu.
Lisbeth nickte dankbar für so viel Aufmerksamkeit, wischte sich mit dem Handrücken über die nassen Wangen, ohne die Tränenflut bremsen zu können, und nahm schniefend, aber folgsam einen tiefen Schluck aus dem Humpen Bier, den man ihr hingestellt hatte. Ihr Oberkörper hob und senkte sich dabei, und jeder konnte sehen, dass ihre Brüste riesig
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