Der elektrische Kuss - Roman
hakten ihn mit hochmütigen Gesichtern unter und schleiften ihn über das Parkett. Nie hatte es bei ihm bislang epileptische Anzeichen gegeben, jetzt zappelte er mit allen Gliedmaßen und aus seinem Mund schäumte es.
»Wer Hunderte Menschen die Kraft dieses göttlichen Fluidums hat spüren lassen können, der bezeugt nicht nur die Macht der Natur, sondern vor allem auch…«
»Vivat, vivat, vivat…«
Der Rest der fürstlichen Ansprache erstickte im Jubel der Gäste. Der inzwischen vor Stolz auf die überstandene Mutprobe über sein ganzes junges Gesicht strahlende Trompeter fing an zu blasen, was das Zeug hielt, und seine Kollegen auf dem Balkon machten es ihm nach. Große Tischplatten, beladen mit glasig schimmernden Austern, gegrillten Schnepfen, in Scheiben geschnittene und zu waghalsigen Pyramiden aufgeschichteten Ananas und vielen anderen Köstlichkeiten, wurden für das Mitternachtsbuffet hereingeschleppt, die Gläser, kaum dass sie leer getrunken waren, sofort wieder mit Punsch gefüllt. Die überreizten Gäste bedrängten die Lakaien, schubsten und stopften sich voll. Das Brabbeln und Diskutieren im Saal schwoll an. Immer mehr Stimmen schwappten in Charlottes Ohr, schriller als noch eine halbe Stunde zuvor. Die Elektrizität fand glühende Verehrer und vehemente Gegner.
Aufmerksam glitten die Augen des Fürsten über die unruhige, Blasen treibende Teichoberfläche. Würden die Frösche, die er aus der Kurpfalz und Baden eingeladen hatte, bei sich zu Hause laut genug quaken? Weder in Karlsruhe noch in Mannheim hatte man bislang solche Experimente gewagt. Im Dreieck Paris, Potsdam, Leipzig war er der Einzige, der Allereinzige, der die Wissenschaft derart pompös für sich hatte tanzen lassen. Auch er war, zugebenermaßen, beeindruckt. Amalias kluges Kind mit ihrer langen Nase hatte die ganze Sache angeleiert. Schau einer an, die kleine Geispitzheim. Der Fürst kniff die Augen etwas zusammen, um in dem trüben Teich besser Goldfische von Stichlingen und dem restlichen Laich unterscheiden zu können. Deshalb bekam er auch nicht mit, dass seine Mätresse energisch auf Manteuffel einredete. Der trat wieder an die Elektrisiermaschine heran, augenblicklich verstummte der Saal, und der Sachse rief mit einer Stimme, der eine gewisse gefühlsmäßige Verunsicherung anzuhören war, und dem deshalb das Messianische von vorhin fehlte.
»Für unser drittes und letztes Experiment bitte ich jetzt Fräulein von Geispitzheim auf die Bühne.«
Irgendwie fand sie den Weg durch die gaffende Menge und war nicht im Geringsten nervös, als sie schließlich neben Manteuffel auf dem Podest stand. Unwirsch gab er ihr Anweisungen, sich auf eine Porzellanplatte zu stellen.
»Dass ich mich isolieren muss, weiß ich selbst«, zischte sie ihn an.
Manteuffel schlug weidwund die Augen nieder, trat weiter und fragte sich wieder einmal, warum er ihr auf den Leim gegangen war. In Leipzig, wo er in höchsten Adels- und Professorenkreisen verkehrte, bewahrte er immer einen klaren Kopf, und für die notwendigen fleischlichen Dinge gab es dienstbeflisse Dienstmädchen, die einem keine kostbare Elektrisiermaschine abschwatzten und einen auch nicht aus der Ruhe brachten. Ihretwegen war er wieder nach Kircheim gekommen, an diesen albernen Hof, mit einem kleinen Wicht als Fürst. Aber das durfte sie auf keinen Fall wissen. Wenn man mit ihr nicht auf Geschäftsebene verkehrte, das hatte er gleich am Anfang gemerkt, machte sie einen verrückt. Außerdem war Manteuffel klug genug, die Rolle, die sie ihm zugeschoben hatte, zu durchschauen. Verbissen trat er auf das Pedal ein.
Charlotte stand kerzengerade, schaute über alle Köpfe hinweg und wurde elektrisiert. Manche Beobachter im Saal behaupteten später, dass ihr silberfarbenes Kleid plötzlich überirdisch geleuchtet hätte. Amalia lächelte tiefgründig, als der Fürst drei Schritte hin zu ihrer Tochter machte. Dass er einiges kleiner war als sie, war Charlotte vorher nie aufgefallen, auch nicht, dass unter seinem rechten Auge eine kleine schwarze Warze saß. Sie hielt seinem Blick stand. Wie lange aber würde er ihre Mutter noch aushalten und stillschweigend die Tochter mitfinanzieren? Ein wächserner Überzug lag auf seinem Gesicht und ein tiefer blauer Schatten unter jedem Auge. Charlotte vermutete, dass er fast sechzig war, und nahm sich auf jeden Fall vor, ihre Mutter danach zu fragen. Sein verführerisches Gehabe wirkte angestrengt, als nur noch ein Abstand von einer Handbreite zwischen
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