Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
Gängen auf und ab, bis sie einen Lakaien fand, der sich herabließ, ihnen Wein zu bringen. Der alte Herr, der als einziger noch in der Bibliothek saß, räusperte sich ein paar Mal, resignierte schließlich und schlurfte zur Tür. Sie prosteten ihm kichernd zu.
    Nach zwei Stunden und einer weiteren Flasche Burgunder verlor Felix die Lust. Charlotte fiel es auf, weil er immer weitere und verzweigte Umwege ging, die ihn aber stets zu den Regalen mit den philosophischen und staatsrechtlichen Werken führten. Es dauerte auch nicht mehr lange, bis er einen Band herauszog, kurz schräg von unten wie ein verlegenes Kind schaute, ob sie ihn beobachtete, sich dann auf eine Sprosse der Leiter zwängte und zu lesen begann. So gleichmäßig und selbstverständlich, wie ein gesunder Mensch atmet. Natürlich beobachtete Charlotte ihn. Manchmal verengten sich seine Augen, oder er kratzte sich am Hals an einem Flohstich. Kleine Zuckungen liefen über sein Gesicht, und Muskeln, die sie dort vorher noch nie gesehen hatte, spannten sich an und lockerten sich wieder. Charlotte nahm sich vor, genau diese Stellen zu küssen. Im Moment aber war es noch befriedigender, ihn einfach anzuschauen und die Wärme, die der Alkohol und Felix ’ ernsthafte Schönheit in ihr aufstiegen ließen, zu spüren. Hätte jemand sie allerdings nach ihren Gefühlen für diesen klugen, kindsköpfigen und braven Rebellen gefragt, dann, das gestand sich Charlotte zerknirscht ein, würde sie sich in vage Umschreibungen flüchten.
    »Experimente mit Findlingen in Lyon«, rief Felix halblaut. Charlotte, ganz in ihre Gedanken über seine Augenbrauen und Waden versunken, lächelte ihn zwar an, hörte ihm aber nicht zu.
    »Hör mal, Charlotte, dieser Wüstling von einem Herzog wollte ideale Untertanen kreieren, fleißig, tüchtig, kräftig also und … Moment mal …«
    Felix beugte den Kopf wieder über sein Buch und las angestrengt weiter. Seine Stirn legte sich in Falten.
    »Charlotte, jetzt kommt es. Sage und schreibe 60 Neugeborene wurden, berichtet dieser Raulin, in einer Art von menschlicher Manufaktur untergebracht. Betreut wurden sie von nourrices sèches.«
    »Nourrices sèches?«, fiel ihm Charlotte ins Wort. »Das sind aber keine …«
    »Genau, damit sind keine Säugammen gemeint.«
    Felix ’ rechter Zeigefinger raste die Zeilen entlang.
    »Hier, hier genau. Raulin beschreibt auch genau, dass es die Aufgabe dieser Ammen war, den Kindern künstliche Nahrung einzuflößen. Es war ja ein Versuch, bei dem es darum ging heraus zu finden, wie man mit der Nahrung den Nutzen von Untertanen steuern konnte. Außerdem brauchte man weniger Ammen, als wenn die Kinder gestillt worden wären. Das hat es auch noch billiger gemacht.«
    »Und wie und womit haben sie sie denn gefüttert?«, fragte Charlotte aufgeregt. Mit einem Ruck stand sie auf und beugte sich über Felix und das Buch.
    Felix blätterte weiter, überflog eine Seite, auch noch die nächsten drei und spannte ihre Neugier auf die Folter, bis er schließlich wieder hochschaute und nachdenklich sagte:
    »Ganz verstehe ich es nicht, aber sie haben es wohl mit einer Art von mundgeblasener Saugflasche gemacht, rouleau genannt, in deren Öffnung ein Schwamm steckte.«
    »Mit einem Schwamm?«
    »Deine Mutter bestellt sich solche, ich glaube«, Felix wurde rot, » für ihre Gesichtspflege.«
    »Dann hätten wir das Problem schon gelöst. Eine Flasche ist ja einfach. Hast du aber auch herausbekommen, womit sie die Säuglinge gefüttert haben?«
    Nochmals las Felix genau nach:
    »Ziegenmilch verdünnt mit einem Drittel Wasser hat sich angeblich am besten bewährt.«

Kapitel 5
    S amuel sah Gott. Selbstverständlich hätte er nie gewagt, sich eine bildhafte Vorstellung vom Allmächtigen zu machen. Aber der milchige Schimmer, der sich an diesem Spätnachmittag in der Sohle eines sanft geschwungenen Tales ausbreitete und die Spitzen von Zittergras, Schafschwingel, Waldhirse, wolligem Honiggras und all den anderen Rispen zu einem einzigen überirdischen Leuchten verschmolz, konnte nichts anderes sein als das Zeichen seiner Herrlichkeit und unter Umständen auch seiner Güte. Je länger Samuel auf die Erscheinung vor sich schaute, desto deutlicher sah er auch, dass sie sich mehr und mehr hin zu einem rauchigen Violett veränderte. Mit einem brennenden Dornbusch hatte sie allerdings nichts gemein. Worüber Samuel mehr als erleichtert war. Denn gleich nebenan stand Wintergerste halbhoch auf einem Feld, das den Krehbühls

Weitere Kostenlose Bücher