Der elektrische Kuss - Roman
Kleinen ab, dessen Gesicht inzwischen vom Schreien hochrot angelaufen war, und drückte ihn wortlos in Anna Gablers Arme, die mit ihrem Pfand eilig aus der Küche verschwand, ohne dass ihre Frömmigkeit sie davon abhielt, die Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen, das einzig und allein boshafte Genugtuung ausdrückte.
Samuel fiel ein, was er eigentlich immer gewusst, aber über die Sorge um Jacob vergessen hatte, nämlich dass Anna eine gebürtige Egly war, Cousine ersten Grades von Jacob Egly, dem Ältesten seiner Gemeinde. Schweiß kroch ihm auf die Stirn, er wollte etwas sagen, erklären, auch beschwichtigen, bekam aber kaum Luft. Auch weil die Luft modrig und abgestanden war. Denn die Amme bestand seit ihrer Ankunft darauf, dass im ganzen Haus die Fenster geschlossen blieben, um eine Verkühlung ihrer Brüste zu vermeiden. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Sarah und Geispitzheims Tochter unentwegt Blicke austauschten und abwechselnd die Augenbrauen hochzogen. Und wenn Sarah doch recht hatte und der Kleine tatsächlich ein wenig kräftiger geworden war? Ein heftiger Drang, so schnell wie möglich auf einen seiner Kleeäcker zu kommen, erfasste ihn. Dort war alles einfach und klar, und er wusste immer, was zu tun war und wie er entscheiden musste. Der Gedanke, dass Gott ihn vielleicht gar nicht wegen seines unbotmäßigen Grolls zur Rede hatte stellen wollen, setzte sich leicht wie ein Schmetterling, aber irgendwie tröstend auf seine Schulter. Vielleicht sollte der Wachtelkönig ihn vorhin lediglich warnen. Nämlich vor der, die sich offenbar das Vertrauen seiner Tochter erschlichen hatte, bei ihm eingedrungen war, ihre Haare schamlos herumwedelte und freundlich und hilfsbereit getarnt einen Pakt mit dem Teufel vermitteln wollte. Kompromisse mit der Welt waren der Anfang vom Ende. Auch und gerade wenn sie sich in seltsamen Flaschen mit Ziegenmilch verbargen und die Rettung seines Sohnes versprachen, sie drangen nur in die Herde Christi ein und versuchten, sie zu spalten. Weltliche hatten ihnen, den Gerechten, im Laufe der Zeit immer wieder mit Gewalt gedroht. Nun gut. Man nahm sie geduldig und friedliebend hin, wie auch Jesus Christus die Schläge und die Kreuzigung ohne Gegenwehr hingenommen und verziehen hatte. Demütig hatten sich Samuels Vorfahren deshalb in den Gefängnissen peitschen und foltern lassen. Was diese Person mit den schamlos unbedeckten Haaren aber im Schilde führte, war weitaus verschlagener als das, was die Verfolger in früheren Zeiten gemacht hatten. Sie bot Hilfe an und wollte ihn und seine Familie damit ins Böse der Welt da draußen ziehen.
Charlotte wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen. In der Flasche, die sie in der Hand hielt, schwappte noch immer genügend lauwarme Ziegenmilch vermischt mit abgekochtem Wasser, damit Jacob jetzt gleich wieder satt werden konnte. Dass der Kleine furchtbar Hunger hatte, hatten ja alle gehört. Charlotte war sehr zufrieden gewesen, als es vorhin beim ersten Mal so gut geklappt und der Kleine sofort begriffen hatte, wie er saugen musste. Die Flasche war nach dem, was Felix aus den Beschreibungen über die Experimente mit den Findlingen in Lyon herausgelesen und skizziert hatte, sofort in Kirchheim aus Zinn gegossen worden. Der Clou war zweifelsohne das Röhrchen, das in einem Gewinde im Deckel steckte, nach innen ragte, aber nicht ganz bis zum Boden reichte und an dessen oben zum Deckel herausragenden Schnabel ein kleiner Schwamm aufgepfropft war. Einfach genial. Verstand Hochstettler denn gar nichts?
Dass er ein merkwürdiger vernagelter Typ war, hatte sie ja schon damals gemerkt, als er Madeira zum Verkauf gebracht hatte. Leicht hätte man denken können, dass er ernstlich geisteskrank sei. Aber sie hatte inzwischen gesehen, wie mustergültig der Hof geführt wurde, da steckte mehr als nur Fleiß und Ordnung dahinter. Wahrscheinlich war der Mann intelligent. Aber warum schüttelte er sich nicht wenigstens die weißen Fussel aus dem Bart? Sonst war er doch so penibel und ehrpusselig. Charlotte wollte gerade noch einmal ansetzen, ihm das Prinzip der Flasche, mit der man Jacob bis auf weiteres problemlos künstlich ernähren konnte, zu erklären, da kam ihr Samuel zuvor:
»Es steht geschrieben, zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen und geht aus von ihnen und sondert euch ab. Wenn Sie es genau wissen wollen, es steht im zweiten Korintherbrief. Vers sechs, Strophe dreizehn.«
»Strophe vierzehn und siebzehn, Vater«, murmelte Sarah und
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