Der elektrische Kuss - Roman
ihr Gesicht glühte, sodass ihre Sommersprossen fast untergingen.
Hochstettler riss nur die Küchentür weit auf, und Charlotte blieb nichts anderes übrig, als tatsächlich zu gehen.
Auch dieser Sommer würde wieder sehr trocken werden. Zu trocken. Samuel spürte es. Hätte jemand ihn gefragt, hätte er von Schnakenlarven, Regenwürmern und den Gelegen der Weißstörche und Schwarzkehlchen erzählt. Die erste Mahd war noch gut ausgefallen, fünf Wagen Heu hatten sie heim in die Scheune gefahren. Jetzt aber wuchs das Gras fast gar nicht mehr und wurde sogar noch welk. Jeden Tag schaute er vergebens nach Wolken aus, er vermisste sie so, wie er die Frösche vermisste, und fragte sich, wie die Störche ihre Jungen durchbringen wollten. Dafür hatten offensichtlich die Wühlmäuse viel Nachwuchs und gruben über Nacht Gänge, wo Samuel am Tag zuvor noch keine gesehen hatte. Schon frühmorgens drückte der Himmel satt blau auf die Erde und die Luft stand still, sodass das Zirpen der Grillen überall und lauter als an windigen Tagen zu hören war. Samuel plagte ein schlechtes Gewissen, denn die Wiesen hätten längst gewässert werden müssen, aber alles war in Verzug, weil er sich durch Johannas Tod und die Sorge um Jacob durcheinander hatte bringen lassen. Genau das aber war schlecht. Das Los fiel, wie der Herr es wollte, trotzdem musste er, Samuel, seine Pflicht tun. Gleichmut und Gelassenheit waren christliche Tugenden, nicht Zorn und schon gar nicht Raserei und Schlamperei. Auch damit ging er in eine der Fallen, die der Teufel auslegte. Samuel schämte sich, wenn er zurückdachte.
Nach den Heimsuchungen und Störungen des vorangegangenen Tages aßen alle Bewohner des Muckentalerhofes wortlos über den Tisch gebeugt ihr Abendessen. Anschließend zog sich die Amme, was Samuel und Sarah nur Recht war, sofort in die Kammer zu ihrem Schützling zurück, der schon wieder seit Stunden reglos schlief. Samuel saß noch lange auf der leeren Seite in seinem Bett und las in der Bibel.
Als Erstes am nächsten Morgen suchten Samuel und Uri alle nötigen Gerätschaften zusammen und schleppten sie zum Bach. Zunächst prüften sie, ob das Stauwehr, das noch aus der Zeit der ersten Hochstettler in der Gegend stammte und das über die Jahrzehnte gepflegt worden war wie alles, was zum Hof gehörte, den Winter gut überstanden hatte. Der Gerbach floss an dieser Stelle breit und flach. Die Kornmühle hatte er schon passiert, sodass man keinen Streit um das Wasser riskierte, und bis zur nächsten Mühle gab es genügend Zuflüsse. Sie putzten Verrohrungen, schritten zügig alle Gräben ab, auch die, die das Wasser wieder zum Bach zurückführen sollten. Hier und da holten sie größere Steine heraus, gelegentlich mussten abgebrochene Böschungen begradigt und befestigt werden. Sie fanden einen angefressenen und von Maden durchsetzten Rehkadaver, den wohl die Schneeschmelze in den Graben geschwemmt hatte, zogen ihn hoch und vergruben ihn.
Gegen Mittag ließen sie im Bach die Schließe herunter. Danach setzten sich Samuel und Uri in den Schatten einer Erle und beobachteten aufmerksam, wie der Wasserspiegel hinter dem Wehr langsam stieg. Uri, dem jede Pause Recht war, verfiel sofort in Tagträume. Er hatte eine Magd erzählen hören, dass das Fräulein von Geispitzheim bei ihnen auf dem Hof gewesen wäre. Natürlich glaubte er ihr kein Wort, aber allein die Vorstellung, dass ihre Kleider die Bank, auf der er immer saß, gestreift haben könnten, ließ seine Phantasie so wild treiben wie einen Korken auf dem Bach, bevor er gestaut worden war. Einmal stöhnte er so laut auf, dass Samuel ihn fragte, ob er Schmerzen habe, worauf Uri zusammenzuckte und als Erklärung dummes Zeug stammelte. Samuel dagegen fand beim Anblick des leise gurgelnden Wassers, das dunkler, weil tiefer wurde, ein wenig Frieden. Er wartete und vergewisserte sich, dass das Wasser so weit anschwoll, dass es in die Gräben drückte und in ihnen geradewegs bis zu den Wiesen laufen konnte. Am Nachmittag trat es über.
Samuel zog seine Schuhe aus und watete ein Stück ins Gras. Er hörte es zwischen seinen Zehen schmatzte und gluckste und spürte, wie die Erde sich gierig vollsog und weich und nachgiebig wurde.
Drei Tage später zogen sie die Schließe im Wehr wieder hoch und stoppten die Flutung. Die Wiesen glänzten inzwischen fett vor Feuchtigkeit. Smaragdfarbene Libellen schwirrten über die Fläche, Weißstörche wateten hungrig heran. Das Leben saugte sich voll und
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