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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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Hof. Nicht einmal einen Brief von ihrer Mutter. Dafür schickte ihr Felix zwei Bücher, die er in ein Hemd von sich eingeschlagen hatte. Als sie es aufwickelte und seinen Geruch wahrnahm, hüpfte ihr ein Floh entgegen. »Vom Geist der Gesetze«, Montesquieu, druckfrisch aus Genf. Auf den drei, eng beschriebenen Blatt Papier, die zwischen dem Deckel und der ersten Seite steckten, bat Felix sie inständig, die Schriften des französischen Herrn unbedingt und genau zu lesen. Gewaltenteilung, der Kutschenfahrplan für die Revolution sozusagen. Ihm seien durch diese Lektüre endgültig die Augen für das Jammertal der Ungerechtigkeiten und Willkür geöffnet worden. Eine Verfassung müsse her. Gedankenfreiheit. Religionsfreiheit. Gleiche Gesetze für alle, egal welchen Stands. Er werde verrückt, wenn er nicht wenigstens mit ihr, dem einzigen Menschen von aufgeklärtem Verstand weit und breit, darüber ausführlich reden könne. Beim nächsten Mal. Er brenne danach. Ach ja, und die Verhältnisse bei Hof. Große Nervosität, große Anspannung. Na, sie werde selber sehen. Mitten auf dem letzten Blatt prangte ein Tintenfleck. Ach, Felix, wie viel Leidenschaft, spottete sie in Gedanken. Im Grunde beneidete sie ihn, dass er wenigstens wusste, was sein Ziel war. Zu dem zweiten Buch hatte Felix nur eine kleine Randnotiz gekritzelt. Er habe es nur kommen lassen, weil der »Maschinenmensch« überall verboten worden sei und sogar im toleranten Holland sämtliche Kirchenoberen gegen sich aufgebracht habe. Das sei doch was! Aber ehrlich gesagt, auch er finde es schrecklich. Der Mensch nur eine Maschine, ein Räderwerk, ganz ohne eigene Vernunft? Aber sie arbeite ja mit Maschinen, vielleicht könne sie ihm erklären, was La Mettrie, der neuerdings am Potsdamer Hof lebte, mit all dem meine? Charlotte legte das dünne Buch auf den Stapel aus Unterwäsche, Papier und Schminkzeug, der wie immer auf dem Sessel neben ihrem Bett thronte.
    Die nächsten Wochen schleppten sich mühsam dahin. Vom Muckentalerhof erfuhr sie nichts Neues. Zwar kam Uri regelmäßig vorbei, um in der Küche das Quantum an Milch, Butter und Käse abzuliefern, das zusätzlich zur Pacht gezahlt werden musste. Aber er verschwand immer gleich wieder. Nur einmal, er wollte gerade aus dem Tor, konnte sie ihn aufhalten. Er vermied ihren Blick und stellte sich, so weit durchschaute sie ihn mittlerweile, dümmer, als er tatsächlich war.
    »Ja, ja, Jakob geht es gut. Er kriegt jetzt schon Brot und Dinkelbrei.«
    »Und Sarah?«
    »Der geht es auch gut.«
    »Was treibt ihr mit dem Mädchen?«
    »Nichts, gar nichts.«
    »Ist sie eingesperrt?«
    »Ich muss jetzt …«
    »Uri, du sagst mir auf der Stelle, ob sie eingesperrt wird!«
    »Nein, wird sie nicht.«
    »Dann ist das Ganze doch wohl gar nicht so schlimm, diese Meidung oder wie es heißt«, sagte Charlotte und suchte ein zustimmendes Lächeln in dem Kindergesicht, aus dessen Kinn, wie ihr jetzt auffiel, immer mehr Bartflusen sprossen. Uri starrte angestrengt auf den Lehm, der sich um seine schwarzen Stiefel klumpte, bis er schließlich murmelte:
    »Es ist viel schlimmer.«
    Weitere Antworten verweigerte er. Charlotte spürte, dass ihre Macht über ihn ausgereizt war, und ließ ihn ziehen. Er hatte Angst, das war klar. Und diese Angst war größer als die, ihre Gunst zu verlieren. Während sie ihm nachschaute, bis seine dunkle Jacke und sein breitkrempiger Hut unsichtbar wurden, fragte sie sich wieder einmal, was an Sarahs Tanzerei so schlimm sein konnte. Schließlich tanzte die ganze Welt. Zumindest die zivilisierte.
    Schließlich traf eine Einladung für die Karnevalsfeste ein. Ihre Mutter schrieb ihr auch noch, dass für sie bei der französischen Modistin, die schlichtweg genial sei, zwei neue Kleider bestellt waren. Und noch eine Überraschung gebe es. Charlotte fuhr mit schlimmen Vorahnungen nach Kirchheim.
    »Eine heiße Schokolade für meine Tochter und für mich Punsch.«
    Nachdem der Lakai das Zimmer verlassen hatte, musterte Amalia von Geispitzheim ihre Tochter ausgiebig.
    »Meine Nase ist nicht kürzer geworden, Mutter.«
    »Paperlapap, aber du solltest unbedingt mehr Rouge auftragen, das lenkt von ihr ab. Ich sehe, du bist enger geschnürt, das gefällt mir. Dreh dich mal.«
    »Ich habe abgenommen, das ist es. Seit Wochen gibt es bei uns keinen Zucker und Pfeffer mehr. Falls du dich erinnerst, war dies das Einzige, was das Essen der Ammerling genießbar gemacht hat!«
    Amalia von Geispitzheim verzog kaum

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