Der elektrische Kuss - Roman
merklich die Lippen, schwieg aber hartnäckig und nippte dann gedankenverloren an ihrem Punsch. Charlotte wusste, dass ihre Mutter nicht gern an ihr früheres Leben erinnert wurde.
»Wir sprechen später noch darüber, mein Kind, später. Jetzt muss ich dir erst die neue Garderobe für den Karneval zeigen.«
Sofort liefen die Zofen und kamen schwerbeladen zurück. Nilgrüne Atlasseide, die fast von selbst stand, Tageskleider aus bunt bedruckten indischen Baumwollstoffen, leichter als ein Nachthemd. Schärpen und Schleppen mit Perlen bestickt, allerdings nur am Saum, wie ihre Mutter monierte. Amalia von Geispitzheim lief zu Hochform auf, inspizierte Spitzen, schlüpfte mit der Hand in orangefarbene Strümpfe, zupfte hier, zupfte da. Besonders den Säumen der Kleider und Unterröcke schenkte sie eine eingehende Beachtung. Dabei fiel Charlotte auf, dass die Arme und Hände ihrer Mutter dünnhäutiger geworden und mit kleinen braunen Altersflecken übersät waren. Sie hätte gerne ihre knochigen Handgelenke umfasst und eine Weile gehalten. Aber solche Intimtäten mochte ihre Mutter nicht. Alles in allem war Charlotte erleichtert. Der harte Zug um ihren Mund hatte sich verflüchtigt, die gute Laune wirkte echt. Dabei schienen die Würfel gefallen. Jedes Küchenmädchen, jeder Stallbursche, so hatte Charlotte gleich bei ihrer Ankunft raunen gehört, wusste mittlerweile, dass die Bretzenheimsche Enkelin offiziell das Appartement unter dem des Fürsten bewohnte. Die Decke war durchgebrochen und eine Spiraltreppe eingezogen worden. Das Grübchen in dem jungen Kinn wurde täglich tiefer, und das ganze Geschöpf noch fleischiger. So wie eine Katze, die nie Mäuse jagen musste. Doch schon am ersten Abend im großen Saal kapierte Charlotte, dass ihre Mutter weiter die Fäden zog. In dem Rhythmus, in dem sie ihren Fächer auf- und zuklappte, bewegten sich die Augen am Hof. Wenn sie über etwas höhnte, dann zogen alle die Nasen hoch und blökten blöd. Devoter wieder als vor einem Jahr. Der Fürst hatte sich zwar ein neues kleines Spielzeug zugelegt, das seiner Männlichkeit schmeichelte. Gleichzeitig aber war die Begeisterung des Fürsten für seine langjährige Geliebte neu aufgeflammt, zumindest für ihren ungeduldigen Geist und unbarmherzigen Witz. Er schwadronierte mit ihr, beugte sich vor, ließ sich von ihr ins Ohr flüstern, lachte auf, rief ein ums andere Mal »genial, genial«, wenn sie die Schlesienpolitik des Preußenkönigs auf den Punkt brachte und im nächsten Satz Maria Theresia gute Ratschläge gab, wie sie Friedrich Paroli bieten könnte. Die Mutter saß wieder fest im Sattel.
Dabei hätten einige zu gern eine Partei um das Bretzenheimsche Marzipanschweinchen gebildet. Eine Menge alter Rechnungen waren offen. Ihre Mutter hatte so viele düpiert und mit ihrem scharfen Verstand bloßgestellt, dass eine bitterböse Revanche die schönste Unterhaltung dieses Winters hätte werden können. Wenn das süße Kind nur mitgespielt hätte. Doch das Einzige, zu dem man sie animieren konnte, war, dem Kurfürsten das Gastspiel einer italienischen Schauspielertruppe abzubetteln. Ansonsten ließ sie sich wie eine gutmütige Stoffpuppe von einem Sessel in den anderen drücken. Dabei stopfte sie unentwegt Törtchen und kandierte Kirschen in sich hinein, sodass längst darüber spekuliert wurde, ob sie ihren Naschzwang wenigstens unterbrach, wenn der Fürst sie bestieg. Sie verlor jedes Kartenspiel, weil sie nicht in der Lage war, die Züge ihrer Gegner einzuschätzen, geschweige denn, ihre eigenen zu planen. Nur ihr schwerer Busen, der bei der kleinsten Bewegung wie ein ofenwarmes Soufflé vibrierte, war eine reine Freude. Amalia von Geispitzheim schonte sie. Sie behandelte sie sogar nett. Nicht zuvorkommend oder gar einschmeichelnd, sondern einfach ohne Tücke. Vor allem lauerte sie ihr nie mit Fangfragen zu den merkwürdigen Parteien im englischen Parlament auf.
»Ein lächerlicher Sieg wäre das. Darauf kann ich weiß Gott pfeifen. Sie abzuschießen wäre unter meiner Würde, hörst du mir überhaupt zu, Charlotte, dass du so was lernst, ist wichtig für dein Leben, besonders wenn du mal an einem Hof lebst.«
Tatsächlich aber war es Amalia von Geispitzheim, die sich ertappt fühlte. Denn mit einem Mal merkte sie, wohin die Blicke ihrer Tochter gingen. Das Nadelkissen, die Schwere, die Fadenrolle, hastig unter den Sessel geschoben. Der aufgetrennte Saum an dem neuen Kleid. Alles verriet sie. Aber Herrgott, sie war solche
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