Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
jämmerliche Schicksal auch nur um ein paar Grad abzuwenden, standen nicht gut. Wahrscheinlich wäre Schwertfeger im Bett keinen Deut schlimmer anzusehen gewesen als der Herr aus Sachsen.
    Sie lachte halblaut auf und es klang reichlich böse. Sodass die Mägde ihr gleich noch ein Bier einschenkten. Was war falsch gelaufen? An welcher Kreuzung hatte sie die falsche Abzweigung genommen? Oder, noch schlimmer, etwas verpasst? Ihre Gedanken liefen ins Leere. Schließlich kapitulierte ihr Körper. Ihre Arme breiteten sich auf der Tischplatte aus, und ihr Kopf bettete sich darauf. Das Klappern, Zischen und Schimpfen in der Küche ging weiter, nur Lisbeth blieb neben Charlotte sitzen und behütete sie mit sorgenvollen Blicken, während sie zwischen ihren Fingernägeln die Läuse zerquetschte, die über den Kopf ihres Sohnes krabbelten.
    Umarmt von Halbschlaf und Bierseligkeit mäanderten Charlottes Gedanken über die schmierige Tischplatte, zwischen Bierkrügen und gerupften Hühnerfedern hindurch, und konnten gerade noch einem blutverschmierten Messer ausweichen. Als sie diese Mutprobe überstanden hatten, wagten sie, wenn auch anfänglich nur sehr zaghaft, auch wieder etwas Optimismus. Allerdings, das gestand sie sich widerwillig ein, brauchte sie vorerst noch storchenbeinige geile Männchen. Weil nur der Graf aus Leipzig die Herrn Professoren an der Universität kannte und erfuhr, an was gerade in London oder Paris gearbeitet wurde. Vielleicht waren schon längst neue Maschinen und neue Erkenntnisse auf dem Markt, von denen sie nichts erfuhr. Bis etwas in Büchern veröffentlicht wurde, verging viel zu viel Zeit. Möglich, dass die Erleuchtung der Welt gerade aus einer ganz neuen, unerwarteten Richtung kam. Alles war derzeit möglich. Es wurde so viel spekuliert, ausprobiert und gefunden. Komplett neue Inseln. Erst kürzlich hatte ihre Mutter aus der Zeitung vorgelesen, dass englische Reisende in Begleitung verständiger Wilder von der Küste der Kolonie Virginia losmarschiert und geradewegs landeinwärts gezogen seien. Rund 1400 Meilen, was 466 schwäbischen Stunden entsprach, hätten sie zurückgelegt, immer gegen Westen, ohne dass die Wildnis ein Ende nahm. Dann kehrten sie um. Auch die Indianer, so war zu lesen, seien noch nie so weit gekommen. Das zeigte, dass die Welt noch voller Geheimnisse und Überraschungen steckte. Man musste sich nur dranmachen. Manteuffel war also nichts als ein Pfadfinder oder ein Werkzeug. Mehr nicht.
    Charlotte raffte sich wieder auf, wischte sich lose Haarsträhnen aus dem Gesicht, gähnte mit weit offenem Mund und blinzelte Lisbeth schläfrig zu. Trotzdem vermisste sie Sarah. Deshalb und weil sie sich auch noch an die Wut erinnerte, mit der sie gegen die verschlossenen Türen gehämmert hatte, trank sie einen weiteren Becher Bier.
    Sie musste sich einen neuen Weg suchen, um der Elektrizität weitere Anwendungsmöglichkeiten zu entlocken. Dass es die gab, war für Charlotte sicherer als das Amen in der Kirche. Dass sie im Moment ohne Einfälle und noch dazu im hintersten Winkel der Welt saß, änderte nichts daran, dass die Wissenschaft nach neuen Forschungen geradezu schrie. Als Frau war sie eingeschränkt, zugebenermaßen. Andererseits verfügte sie über unbestreitbare Vorteile. Allein wenn sie daran dachte, wie leicht sie an die teure Elektrisiermaschine gekommen war. Als Charlotte erneut ihren leeren Becher vorschob, runzelte Lisbeth die Stirn und zögerte. Wahrscheinlich dachte die Gute, dass sie in dasselbe trübsinnige Fahrwasser wie ihr Vater kommen könnte. Also zog Charlotte wie Madame Benoit alias Klara Möckel die Mundwinkel schmeichelnd nach oben, klimperte mit den Wimpern und gab prustend das jüngste Gerücht über den Dorfschullehrer zum Besten. Nach einer halben Stunde prostete sie auch der Köchin zu. Um das Geld für den Kaffee, den Pfeffer und den Zucker würde sie sich selbstverständlich auch kümmern.
    Todmüde und reichlich betrunken brachte Charlotte schließlich Rollo noch etwas rohes Fleisch nach oben, wartete, bis er schmatzend aufgefressen hatte, öffnete dann die Tür einen Spalt und ließ das Tier in die dunkle, muffige Höhle schlüpfen. Sie sah ihren Vater nur schemenhaft in seinem Bett liegen und sprach ihn nicht an. Denn so schlecht war es ihm in seiner Melancholie noch nie gegangen, dass er nicht nach einer Weile einen Arm ausgestreckt und Rollo zu sich ins Bett gehoben hätte.
    Für Weihnachten bekam sie in diesem Jahr keine Einladung vom Kirchheimer

Weitere Kostenlose Bücher