Der elektrische Kuss - Roman
Herr Jesus Christus am Pfosten seines Bettes aufgetaucht wäre, reinen Gewissens hätte beteuern können. Diese Paradoxie verwirrte Samuel beträchtlich. Wie ihn überhaupt die merkwürdigen Ereignisse des vergangenen Jahres mehr aus dem Tritt brachten, als er sich das je hätte vorstellen können. Sein durch die Worte der Bibel rechts und links säuberlich abgesteckter Weg hatte sich verändert. Nicht dass er etwa breiter geworden wäre, Gott bewahre. Auch an seiner christlichen Ernsthaftigkeit hatte sich nichts geändert, mit der er Tag für Tag das Kreuz Jesu tragen half. Eher hatte Samuel den Eindruck, dass der grashalmschmale Weg, den er ging, sich ganz leicht krümmte, eine sanfte Kurve einschlug. Das selbstverständliche Geradeausgehen war dadurch komplizierter geworden. Weil das alles so war und Egly und er selbst sich scharf beobachteten, erlaubte er sich auch kein Mitleid mit seiner Tochter. Über sechs Wochen schon sprach er kein Wort mehr mit Sarah. Sie saß am Spinnrad, am Webstuhl, schälte Kartoffeln oder putzte nur zwei, drei Meter von ihm entfernt, aber wie durch eine dicke Glasscheibe getrennt.
Das Einzige, was Samuel in dieser schlimmen Zeit Auftrieb gab, war, dass es etwas wärmer wurde und er zusammen mit Uri mitten auf dem Hofplatz eine Grube ausheben konnte. Fünfzehn mal zehn Schritte, einen halben Schritt tief. Denn im Stall standen die Fässer, längst randvoll und störten. Solange der Frost den Boden verschloss, war es sinnlos, den Mist auszubreiten. Noch mehr Fässer anzuschaffen, wäre zu teuer gewesen. Dass andere Täufer in Zweibrücken solche Gruben angelegt hatten und jeden Morgen und jeden Abend die Abfälle der Tiere direkt dort hineinschaufelten, wusste er vom Hörensagen. Gesehen hatte er noch keine. Aus einer Ziegelei kam eine Fuhre gebrannter Steine. Als sie sie ausluden, tauchte am Fenster Sarahs Gesicht auf, und Samuel lächelte ihr zu. Für einen Moment nur, aber lang genug, damit sie es gesehen haben musste, so hoffte er. Alles würde wieder gut werden. Er würde diesen Sommer keine Brachen mehr liegen lassen, sondern überall dort, wo im vergangenen Jahr Getreide gewachsen war, Klee säen. So würde sich der Boden erholen und gleichzeitig Viehfutter geben. Seine Tochter würde heiraten und die Familie wachsen. Alles würde gut.
Nie mehr, so nahm er sich fest vor, während seine Arme mit aller Kraft in einem Bottich Kalkmörtel anrührten, würde er einen Blick auf das Tier in dem französischen Buch werfen. Wahrscheinlich existierte es überhaupt nicht in Wirklichkeit, in keinem einzigen Land der Erde, sondern war nur ein Trugbild und durch Hexenkraft in sein Heu gekommen. Auch Uri strengte sich an, schleppte Steine, setzte sie wieder um, wenn Samuel fand, dass sie nicht exakt genug lagen. Lage um Lage wuchs unter ihren Händen die gemauerte Einfassung der Mistgrube, und Samuels Glaube, dass auch sonst wieder alles ins Lot kommen würde, hätte sich bewahrheiten können.
Doch dann schickte sein Pachtherr einen Boten vorbei. Einen dreckigen, dreisten Lackel, der die amischen Mägde aus kleinen, rotgeränderten Augen anglotzte und Kautabak auf den Boden spuckte. Hochstettler solle zum Gut kommen! Der Bote klaute und soff regelmäßig, machte aber keinen Hehl daraus, dass er die Täufer für verdächtiges Pack hielt. Samuel ließ sich auf kein Gespräch mit ihm ein, setzte jedoch seinen Hut auf und ging den Weg zu seinem Golgatha. Dort lungerte ein anderer, nicht weniger schmutzig und faul aussehender Bursche herum und streckte einen Finger in Richtung Stall aus.
Staubiges Dämmerlicht empfing ihn, dazu der würzige Geruch von Pferdeäpfeln und vereinzeltes Schnauben, glücklicherweise keine Menschen. Was sollte er hier? Erwartete der Herr von Geispitzheim ihn? Verunsichert wartete Samuel. Dann erst hörte er das Pfeifen und schaute, von welchem Pferd es kam. Es war Älblis erstes Fohlen, das Geispitzheim für seine Tochter gekauft hatte. Warm krochen die Lippen über die Innenfläche seiner ausgestreckten Hand, dabei floss aus den Nüstern eitriger Rotz. Samuel wischte sich die Hand ab und tastete vorsichtig den Hals der Stute ab. Das Fräulein hatte sie geritten, wenn sie zum Hof gekommen war. Also doch! Er tastete eine Geschwulst. Sofort zuckte das Pferd vor Schmerzen und riss den Kopf hoch. Leise sprach er auf das Tier ein, auch noch, als er die Schritte hinter sich hörte.
»Was fehlt ihr denn? Ich war verreist, und als ich zurück kam, hustete Madeira komisch und
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