Der elektrische Kuss - Roman
am Hals des Pferdes aufgeschnitten hatte, erneut blasiger Schleim und träufelte über das braune Fell. Samuel nutzte die Gelegenheit, nicht antworten zu müssen, und säuberte die Wunde. Dabei dachte er an so manches, was Jesus Christus vollbracht hatte und das mit der menschlichen Vernunft nicht zu verstehen war. Falls der Heiland selbst vernünftig gewesen wäre, dann hätte er bestimmt nicht das Kreuz auf sich genommen und wäre für die Menschen gestorben. Das alles würde das Fräulein aber weder verstehen noch hören wollen. Sie führte ihre Vernunft zur Schau wie eine neue Mode. So wie die Weltmenschen mal scheckige Kleider trugen und mal gestreifte, silberne Knöpfe, groß wie Pflaumen, oder ihre Kirchen vergoldeten. Unter seinen Handflächen fühlte sich das Pferd immer heißer und verschwitzter an. Also ging er lieber gleich zu dem über, auf das es wirklich ankam.
»Es gibt nur eine einzige Wahrheit im Leben, und die ist immer dieselbe und ohne Irrtümer. Deshalb braucht man sie auch nicht zu drehen und zu wenden oder auf den Kopf zu stellen und man kann seine Zeit mit anständiger Arbeit verbringen.«
»Dass ich nicht lache, jawohl, Herr Hochstettler, ich lache! Eine einzige Wahrheit! Jetzt sind Sie es aber, der ausgesprochen eitel ist. Alles, was es gibt, sind nur unzählige Theorien und Thesen, die sich nach vielen Experimenten oder Diskussionen eventuell als richtig erweisen und einzelne kleine Wahrheiten ergeben. Und es kann passieren, dass dann neue Hypothesen auftauchen, die die alten wieder über den Haufen werfen. Merken Sie denn nicht, dass alles um uns herum im Fluss ist und Wahrheiten inflationär sind. Ich weiß, dass Sie das nicht interessiert, aber ich sage es Ihnen trotzdem. Nämlich dass ich erst vor ein paar Tagen herausgefunden habe, dass man mit Elektrizität einerseits töten, in reduzierter Dosis aber auch Schmerzen abtöten kann. Glauben Sie mir, mein Patient hat keine Zahnschmerzen mehr. Trotzdem würde ich nicht wagen zu behaupten, die ganze und noch dazu einzige Wahrheit über das Fluidum zu wissen. Genauso habe ich ja schon mal aus der Atmosphäre Elektrizität abgezapft, und ein gewisser Franklin, Dr. Franklin, soll angeblich Blitze einfangen können, aber …«
»Den Blitz einfangen?«
Das Röcheln des Pferdes hörte sich nicht so schlimm an wie Samuels Stimme. Er war zutiefst geschockt. Wenn die Sünder sich schon am Himmel vergriffen, dann stand es schlechter um die Welt, als er bislang angenommen hatte.
»Ja, natürlich, den Blitz einfangen, in der Mannheimer Sternwarte neue Himmelskörper und Kometen entdecken oder eben sonst was.«
»Wozu?«, fragte Samuel mit tonloser Stimme.
Charlotte verdrehte die Augen.
»Na, Sie stellen vielleicht Fragen. Um mehr zu wissen, um die Welt klüger und damit freier zu machen. Schauen Sie, in der Philosophie geht es im Moment auch nur noch um mehr Freiheit«, sie senkte die Stimme etwas und fuhr dann fort. » Wir sind ja hier unter uns, und hängen Sie es bitte trotzdem nicht an die große Glocke, aber es gibt da Männer in England und Frankreich, die sich mit gleichen Gesetzen für alle und Gewaltenteilung beschäftigen. Dr. Schubart, den ich vorhin schon erwähnt habe, sagt, dass es wohl in absehbarer Zeit dazu kommt, dass Kurfürsten und auch Könige ihre Macht durch Verfassungen legitimieren müssen. Verstehen Sie, und das nur, weil Wissenschaftler angefangen haben, die Allmacht der Herrschenden anzuzweifeln. Anzuzweifeln, hören Sie, es läuft immer darauf hinaus. Der Zweifel kriegt jede sogenannte Wahrheit klein, auch dass die Herrscher von Gottes Gnaden Herrscher sind.«
»Dass Regierungen überflüssig sind wie Schnee im Mai, sagen meine Brüder und ich schon immer, und jeder wüsste es, wenn er die Heilige Schrift und nicht irgendwelchen Unsinn lesen würde.«
Mit offenem Mund starrte Charlotte den Mann auf der anderen Seite des Pferderückens an. Ihre Schlagfertigkeit sackte zusammen wie Tulpenköpfe, auf die es tatsächlich schneite. Verwirrt stammelte sie:
»Überhaupt keine Regierung?«
»Überhaupt keine, denn sie maßen sich an, was nur Gott zusteht und, wenn er wiederkommt, seinem Sohn. Und Luther hatte völlig unrecht, als er behauptete, dass es zwei Reiche gibt. Es kann für wahre Christen nur eines geben. Deshalb dürfen wir nicht den Herrschern dienen, die Kriege anzetteln oder Eide verlangen und damit ein Reich des Bösen aufbauen wollen. Die Gemeinden der guten Christen funktionieren ja auch bestens ohne
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