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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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anderen stand. Deshalb konnte sie auch nicht sehen, dass Jacob Egly, der Älteste der Gemeinde, seine Hand auf die Schulter ihres Vaters legte und ihn mit sich auf die noch wintergelbe Wiese drängte. Krähen flatterten auf. Der Himmel stülpte sich wie eine Schüssel aus geputztem Zinn über sie.
    »Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, sagt der Hirte bei dem Evangelisten Johannes.«
    Samuel nickte und hielt dem wasserblauen Blick stand. »Und du weißt auch, dass jede Schafherde nicht nur einen Hirten, sondern auch einen guten Hund braucht. Unsere Ordnung ist ein guter Hund. Und zwar die Ordnung, die uns Jakob Ammann mit auf den Weg gegeben hat.«
    Samuel nickte wieder und wartete. In einem sanften, fast singenden Ton fuhr der Älteste fort:
    »Sonst rennen unsere Schafe auf die Weiden der anderen Herden und mischen sich mit denen, die den guten Hirten nicht kennen. Sie erliegen den Irrtümern der Welt. «
    »Wir meiden Sarah, so wie du es angeordnet hast und wie es im Artikel sechzehn des Dordrechter Bekenntnisses steht.«
    Dass seine Stimme krächzend klang, gelang ihm nicht zu vermeiden, aber noch immer wich er Jacob Eglys aufsaugenden Augen nicht aus.
    »Ich weiß, ich weiß Samuel, aber«, und jetzt lächelte der Älteste sogar, sodass die Ansätze seiner langen gelben Zähne sichtbar wurden, und schob seinen ganzen Arm um Samuels Schultern. »Jesus sagt auch, dass wir ringen müssen, regelrecht kämpfen gegen unser eigenes Fleisch, um durch die schmale Pforte zur wahren Gemeinde zu kommen. Die Ordnung hilft uns dabei. Die aber braucht auch einen Vater, der darauf schaut, dass sie in seinem Haus eingehalten wird.« «
    »Sarah ist vor zwei Jahren getauft worden, sie ist ein mündiges Mitglied der Gemeinde.«
    »Aber wer hat den Hochmut und die Prunksucht in das Haus gelassen? Diese Frau, diese Tochter Babylons, die mit ihr getanzt hat … du bist der Hausherr, du hättest vor ihr die Türen verschlossen und verriegelt halten müssen.«
    Egly beugte sein Gesicht ganz nahe an Samuel heran, sodass sich ihre beiden Bärte berührten.
    »Samuel, sieh dich vor!«
    In Samuels Ohren summten die Abschiedsworte, die seine Schwestern und Brüder drinnen im Haus wechselten. Es wurde gelacht, gescherzt, Bänke und Tische gerückt, sie räumten also schon auf. Wenn jetzt doch nur Noah, der Wagenbauer, groß und freundlich wie ein Schrank neben ihm stünde. Aber auch Noah käme nicht umhin, bedächtig zu nicken. Denn der Älteste hatte Recht. Mit dem Bann und der Meidung, die er über Sarah verhängt hatte, mit den Vorwürfen gegen ihn. Mit allem hatte Jacob Egly recht. Samuel murmelte die Worte aus Matthäus, Kapitel 18, Vers 17 vor sich hin:
    »Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.«
    Der Älteste konnte auf Erden binden und lösen, und dementsprechend würde es dann auch im Himmel gebunden oder gelöst sein. Sarah wäre nicht in Versuchung geraten und von der Gemeinde gelöst worden, wenn er besser auf die Einhaltung der Ordnung geschaut hätte, da hatte Egly Recht. Hatte vielleicht alles mit dem französischen Buch und la girafe begonnen, dem gescheckten, langhalsigen Wundertier, das er viel zu lange betrachtet hatte? Ähnelte es nicht in gewisser Hinsicht dem Fräulein? Eine Angst überschwemmte Samuel, die kälter und dunkler war als die, die er auf dem Fußboden im Gefängnisloch des Kurfürsten empfunden hatte. Er spürte unentwegt die Blicke des Ältesten auf sich. Bis er den Bruderkuss bekam und entlassen war. Samuel nahm Jakob vom Schoß einer seiner Cousinen, setzte ihn sich auf die Schultern und machte sich auf den Heimweg. In gebührendem Abstand folgte Sarah. Tochter wie Vater waren tief unglücklich in ihre Gedanken vergraben.
    Es war zu früh im Jahr, die Erde noch tot, die Knospen an den Sträuchern und Bäumen ließen auf sich warten, trotzdem begann Samuel ein Feld zu pflügen und zu eggen. Am liebsten hätte er sich selbst vor den Pflug gespannt. Aber diese Qual wäre dann auch wieder eine Form von Hochmut gewesen und wider die wahre Gelassenheit, in der das Ich ganz unscheinbar und demütig zu sein hat. Dafür klaubte er nach getaner Arbeit noch eine Stunde lang das Feld von Steinen frei, selbst für ganz kleine bückte er sich und schichtete sie am Rand sorgfältig auf. Wenn er sich dann abends ins Bett legte, schmerzte sein Rücken, aber die Last der Schuld blieb trotzdem. Obwohl er sich unschuldig fühlte und das auch, falls der

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