Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
behandelt wird?«
    Samuel hörte nicht auf, die Messerklinge mit einem Tuch zu reiben, obwohl sie inzwischen fleckenlos war, und ignorierte ihre Frage.
    »Haben Sie nicht gehört, Hochstettler? Ich will eine Auskunft zu diesen hirnrissigen Vorgängen. Ich tanze, der Fürst tanzt, die Kurfürstin und der Kurfürst in Mannheim tanzen …«
    Ihre Stimme hallte herrisch durch den Stall, und sie echauffierte sich so, dass sie gar nicht mitbekam, wie Samuel sich straffte, die Brust dehnte und den Bart hob. Dafür drehte Madeira den Kopf.
    »Oh ja, und das Volk Israel tanzte und betete ein Götzenbild anstelle Gottes an. Die Frauen zogen sich dazu Hurenkleider an. Im Tempel verkauften sie Rinder, Schafe und Tauben, und die Geldwechsler saßen auch da. Seitdem ist die Welt nicht besser geworden. Aber wir …«
    Samuel pausierte und bohrte seinen Blick durch die braune Mähne, bevor er weiterdozierte: »Wir halten uns von diesem hoffärtigen Treiben fern, das unsern Herrn verhöhnt. Wenn einer von unserer Gemeinde sich aber doch in Versuchung führen lässt und vom Weg abkommt, dann muss er dafür bestraft werden. Auch das steht in der Heiligen Schrift.«
    »Bei Mord, Diebstahl oder sonstigen Verbrechen, das ist ja nur vernünftig. Aber ich bitte Sie, wegen ein paar Schritten hin und her, einem Menuett, noch dazu ohne Musik. Außerdem bezweifle ich sehr, dass das wirklich in der Bibel verboten ist. Jesus war doch, soweit ich mich erinnere, bei einer Hochzeitsfeier in Kanaan, da hat man bestimmt auch getanzt. Vielleicht müsste man die entsprechenden Stellen noch einmal genau überprüfen, es kann ja auch an der Übersetzung liegen. Ich kenne da einen Herrn Dr. Felix Schubart …«
    Ein heftiger Hustenanfall beutelte Madeira. Aus ihren Nüstern schleuderte Rotz auf Charlottes Haare und Samuels Jacke, was aber beide ignorierten.
    »Zweifel sind eine Anmaßung. An der Heiligen Schrift zu zweifeln, hieße, die Allmacht Gottes in Frage zu stellen.«
    War es sein Tonfall, der in ihren Ohren vor Selbstzufriedenheit triefte, oder seine Augen, die sie festnageln wollten? Intuitiv setzte Charlotte ihre Waffen ein und schüttelte ihr Haar, sodass der Staub aufwirbelte. Hochstettler schloss die Augen und wünschte sich inständig, er wäre weit weg auf einem Kleeacker. Aber sie traktierte ihn weiter.
    »Nichts ist stupider und langweiliger als Menschen ohne Zweifel. Nichts, gar nichts mehr würde sich ohne Zweifel bewegen und verändern. Wir würden wie Fliegen im Honigglas in einem zähen, dumpfen Stillstand kleben, und unsere Vernunft würde verschimmeln.«
    Jetzt war sie es, die sich auf die Zehenspitzen stellte, gegen den warmen Bauch des Pferdes lehnte und größer wurde. Ihre Worte spritzten wie gerade noch der Eiter aus dem Abszess zu ihm hinüber.
    »Ich nehme mal an, Hochstettler, dass nicht einmal jemand wie Sie noch glaubt, dass die Erde eine Scheibe ist.«
    Draußen stapften Stiefel, ein Eimer wurde scheppernd abgesetzt, eine Tür öffnete sich quietschend, die Schritte entfernten sich. Ihr beißender Hohn zielte darauf ab, ihn schrumpfen und kuschen zu lassen, den Pächter, den verstockten Bartträger. Doch Hochstettler reagierte nicht einmal wütend. Stattdessen musste sich Charlotte eine nachsichtige, sanfte Stimme anhören, die mit ihr sprach wie mit einem überreizten Kind. Die Andeutung eines Lächelns schlich sich sogar auf sein Gesicht.
    »Was ist denn bitte die Vernunft? Sie ist eine kindische Eitelkeit, ein Strohfeuer, das schnell abbrennt und uns allein und fröstelnd zurücklässt, ohne dass die Welt oder der einzelne Mensch besser geworden wäre. Mehr ist Vernunft nicht. Einzig der Glaube, demütig und fraglos, stiftet Frieden und Seligkeit und hat genug Licht und Wärme, um gegen die Finsternis anzukommen.«
    Samuels Mund fühlte sich vom vielen Sprechen wie ein Sack voller Sägespäne an. Aber was gesagt werden musste, musste gesagt werden. Er hätte es schon früher tun müssen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen. Weich plumpsten Madeiras Äpfel ins Stroh, und sofort stieg warmer Dampf auf.
    »Hochstettler, dann aber erklären Sie doch bitte, warum uns Gott mit Vernunft ausgestattet hat! Wir haben diese Fähigkeit, zu forschen, zu hinterfragen, auch zu negieren und auf diese Weise Stück für Stück die Welt zu entschlüsseln. Oder meinen Sie, Gott ist in seinem Schöpfungsplan ein Fehler unterlaufen, als er uns Vernunft mitgegeben hat?«
    Während sie sprach, schwappte aus der Schwellung, die Samuel

Weitere Kostenlose Bücher