Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
Vom Netzwerk:
allen Einblicken verborgene Stelle am Bach ihr für ein paar Stunden Zuflucht und Vergessen schenken würde. Was tatsächlich dann auch so war.
    Das Glucksen des Frühlingswassers, von dem Madeira trank, lullte sie ein. Obwohl der Boden noch feucht und kühl war, legte sie sich ausgestreckt hin, kaute den Saft aus den ersten grünen Stengeln und spülte damit den letzten Rest Übelkeit weg, flog mit einem Schwarm Goldammern hoch, verlor sie aber bald aus ihren kurzsichtigen Augen. Mithilfe eines Weberknechtes, der gravitätisch über ihren Unterarm wanderte, kam sie wieder auf die berührungslose Berührung und die Elektrizität. Beim nächsten Besuch am Bach brachte sie sich den guten alten Gray mit. Seine Versuche lasen sich inzwischen wie ein zerfleddertes Buch mit Kinderreimen, jeder Satz vertraut, den nächsten schon auswendig im Kopf. Die Welt draußen konnte ihr gestohlen bleiben. Das Kleid, das sie für ihre Ausritte trug, ein ursprünglich rehbraunes mit violetten Streifen, beherbergte mit der Zeit, die sie in dem Lager zwischen den Weiden und Erlen verbrachte, Käferflügel, zerbrochene Schneckenhäuser und zusammengerollte Larven, stank nach Erde sowie schmierig verfaulten Blättern des vergangenen Jahres und ähnelte besonders von hinten einem abgenutztem Kartoffelsack.
    Den Rücken sah Sarah zuerst, schmutzig und gekrümmt unter den Weiden dösend. Seine Vorderseite verlangte nicht, dass sie redete. Im Gegenteil. Sie hielten sich nur in den Armen und wiegten sich. Erst nach einer Weile spürte Sarah, dass ihr Ärmel durchweichte, also küsste sie sich von Charlottes Schläfen zu den Tränen vor, sobald sie die Augen verließen. Als die Sonne so hoch am Himmel stand, dass sie schüchtern durch das Dach aus Zweigen und ersten Blättern zu ihnen hindurchschien, wusste Sarah bereits alles. Aber weder Paris noch Kaiserslautern sagten ihr sonderlich viel, sodass beides zur Seite gelegt und vergessen wurde wie der Hirschkäfer, der sich bis zum linken Knie Charlottes verirrt hatte.
    »Wir gehen nach Pennsylvania, in Gottes neues gelobtes Land. Am besten du kommst mit uns mit.«
    Sofort wuchs Sarahs Mund wieder fest zu, und nur ihre Augen sprachen und beschworen Charlotte, dass genau das die richtige Entscheidung wäre.
    »Wann?«
    Hellwach beugte sich Charlotte über ihre Freundin. Die hob nur die rechte Hand und spreizte alle fünf Finger.
    »In fünf Tagen?«
    Sarah nickte. Charlotte einen Moment später auch. Ein Rudel Silberfische drang in ihre Gehirnwindungen ein und verbreitete überall den Plan.
    Zu Hause begann sie sofort, ihre Sachen zu sortieren. In solche, die sie zurücklassen, und in solche, die sie mitnehmen würde. In die neue Welt.
    Seitdem ihr Vater ihr unterbreitet hatte, dass, warum und wohin er mit seiner Familie auswandern wolle, und auch Uri zugestimmt hatte mitzukommen, konzentrierte sich Sarah darauf, einen möglichst großen Vorrat Sauerkraut zuzubereiten. Zwei große Töpfe mindestens. Das sagte sie zwar niemandem, aber es war offenkundig, was sie vorhatte. An dem Abend ihres Wiedersehens mit Charlotte kam ihr Vater vom Stall in die Küche, um nach ihr und Jakob zu schauen. Er erschrak über die Vehemenz, mit der sie einen Weißkohlkopf auf dem Hobel traktierte. Behutsam legte er ihr seinen Arm um die Schultern. Und tatsächlich hielt sie inne und schaute ihn an.
    »Ich möchte, dass das Fräulein, das Fräulein von Geispitzheim mit uns mitkommen darf.«
    Ein, zwei Sekunden noch, dann drückte sie wieder mit ganzer Kraft und hobelte weiter.
    »Mit? Nach Pennsylvania, meinst du. Warum um alles in der Welt sollten wir diese Person mitnehmen?«
    »Weil ich sonst auch nicht mitkomme.«
    Der Berg fahler, welliger Streifen unter ihren Händen wuchs immer schneller, bis Sarah den Inhalt der Schüssel geschwind in den Gärbottich kippte und noch etwas Salz dazustreute. Dann nahm sie den Stampfer und begann vehement das Kraut zu bearbeiten, damit aller Saft austrat und schließlich als Lake oben schwamm. Den Deckel verschloss sie sorgsam und beschwerte ihn noch mit Gewichten, sodass das Kraut fest zusammengepresst wurde und alle Luft entwich. In vier Wochen würde es vergoren sein. So hatte es ihre Mutter auch immer gemacht, und ihre Mutter, da war sich Sarah ganz sicher, würde wollen, dass sie auf diese gefährliche Reise Sauerkraut mitnahmen.
    Samuel brachte kein Wort mehr aus seiner Tochter heraus, der der Schweiß auf der Stirn stand. Es war eh alles gesagt, was gesagt werden

Weitere Kostenlose Bücher