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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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schoss, dann hätte Samuel sich am liebsten in den Fluss gestürzt und wäre den weiten Weg nach Hause zurückgelaufen. Doch er konnte nicht schwimmen.
    Noah natürlich, der Hüne unter den Brüdern, der fehlte ihm auch. In dem Moment brach lautes Geschrei aus, so dass Samuel widerstrebend den Kopf hob. Drei Männer, junge Kerle noch, mit nackten Oberkörpern fluchten und stritten sich, einer ballte die Fäuste, sprang auf den anderen zu. Samuel zog schleunigst den Kopf wieder ein und schloss die Augen.
    Der Herr erwiderte: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden und verpflanz dich ins Meer! Und er würde euch gehorchen. Diese Verse, fünf und sechs des 17. Kapitels im Lukasevangelium, sagte sich Samuel schon seit zwei Tagen regelmäßig auf. Pünktlich fast jede Stunde. Dann wieder andere Passagen aus dem Johannesevangelium, die er ebenfalls Wort für Wort auswendig lernte. Oft schaffte er eine Bibelseite pro Tag. Nur so füllte er den beschämenden Müßiggang, das unnütze Sitzen, Schlafen, Schauen. Nur so hatte er das Gefühl, sich wenigstens zu irgendetwas unter den wachsamen Augen des Herrn nützlich machen zu können. Zu Hause hatten sie am vergangenen Sonntag das Abendmahl gefeiert und sich dabei gegenseitig die Füße gewaschen. Ostern! Zum ersten Mal seit seiner Taufe war er nicht dabeigewesen. Sein Bart zitterte leicht im Fahrtwind. Samuel hungerte nach Seinem Leib und Seinem Blut. Seit dem letzten Abendmahl waren fast sieben Monate vergangen. Wie sollte er da die anstrengende Reise schaffen? Argwohn und Angst lagen schwer wie Flusssteine in ihm. Aber das Dutzend Passagiere, das sonst noch auf dem Schiff saß, konnte an seinem ruhigen Gesicht allenfalls ablesen, dass ein frommer Mann vollkommen im Reinen mit sich in die Heilige Schrift vertieft war.
    Sobald die Formalien an den vielen einzelnen Zollstationen beendet waren, sackte aber auch Charlotte jedes Mal zusammen und fiel in schläfrige Apathie. Stundenlang saß sie da und starrte, als suchte sie auf der Wasseroberfläche etwas. Dass dabei ihr Teint verdarb, war ihr egal. Sie hatte sich nicht von ihrem Vater verabschiedet, kein Wort wäre passend gewesen. Außerdem hatte, so erzählten die Mägde, Rollo an den Tagen vor ihrer Abreise schleimige Blutspuren in seinem Kot, und der Vater sorgte sich schrecklich um ihn. Unmöglich hätte sie ihn da stören dürfen. Lisbeth oder die Köchin Ammerling würde es ihm irgendwann beibringen, vorausgesetzt, er bemerkte die Abwesenheit seiner Tochter überhaupt.
    Zwischen Bingen und Bacharach kam ihr plötzlich Felix in den Sinn. Vor allem seine buschigen Augenbrauen, die sie oft gestreichelt hatte. Er würde kein Wort von dem glauben, was sie ihm als Grund für ihre Abreise geschrieben hatte. Elektrizitätsforschung in den Kolonien, zum Lachen! Charlotte verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Aber die Wahrheit wäre erst recht nichts für ihn gewesen. Die Wellen schwappten hoch, so dass ihr Schiff mehr als sonst ins Schaukeln geriet, weil ein anderes Schiff mit geringem Abstand an ihnen vorbeifuhr. An dessen Bord stand ein Mann, der dreist zu ihr herüberglotzte, die geschminkten Lippen zu einem Pfiff spitzte und auch noch eine ordinäre Geste in ihre Richtung vollführte. Blitzschnell schleuderte Charlotte ein Holzscheit auf ihn. Dass sie ihn traf, war die einzige Abwechslung an jenem Tag.
    Sarah putzte Gemüse, rupfte und entbeinte Hühner, rührte Suppe über dem Feuer, verteilte Essen und vermied es dabei, zu den anderen Passagieren oder gar zum Land hinüberzuschauen. Noch nie war sie so weit von Zuhause entfernt gewesen. Noch nie waren in ihren Augenwinkeln so merkwürdige Dinge aufgetaucht. Mächtige gemauerte Brücken, die sich über den ganzen Fluss wölbten, sodass Sarah minutenlang steif wie eine Schmetterlingspuppe da saß und fürchtete, die Steine könnten auf sie herunterprasseln, als sie darunter durch fuhren. Sie verschanzte sich in die Tätigkeiten, die sie vom Muckentalerhof gewohnt war. Blumenkohl war Blumenkohl, und Spinatblätter waren Spinatblätter. Unter ihrer Aufsicht unternahm Jakob seine ersten Gehversuche. Weil der Kleine dabei vor Vergnügen jauchzte, und auch um seiner Schwester näher zu kommen, warfen die Schiffsleute den Kleinen manchmal in die Höhe oder setzten ihn sich auf die Schultern. Mit der Zeit aber verstand es Sarah immer besser, ihn abseits von allen am Gängelband

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