Der elektrische Kuss - Roman
Kaiserslautern nicht machst, dann will ich meine Aktien und die Schatulle mit dem Schmuck zurück. Und grüß deinen Vater.«
Felix über den Weg zu laufen oder ihn gar in seiner Dachkammer aufzusuchen, unterließ Charlotte tunlichst. Außerdem wurden die Lakaien wieder einmal bestochen, sodass der kurze Besuch bei ihrer Mutter geheim blieb. Der Kutscher bekam Befehl, extra schnell zu fahren. Nicht damit, wie er annahm, das Fräulein noch vor Einbruch der Nacht wieder zu Hause wäre, sondern weil es einen nicht ganz unerheblichen Teil der fürstlichen Wertpapiere unter ihrem Rock außer Landes führte.
Auf den Nebel folgte schönstes Frühlingswetter, und in wenigen Tagen sahen die blühenden Obstbäume aus wie dickes rosa Naschwerk aus Marzipan. Die Küchenmädchen trällerten Lieder, und selbst die Ammerling grunzte etwas freundlicher, wenn Charlotte zum Essen kam. Von der Großmutter traf ein Brief ein, dass der Weinhändler Schwertfeger alias Schwerthalter ein stockhässliches Fräulein von Sonderhausen geheiratet habe. Die Hochzeit sei so pompös gewesen, dass Mannheim bestimmt noch in zehn Jahren davon reden werde. Ihre Gicht verschlimmere sich, weil sie sich noch täglich darüber ärgere, dass die Enkeltochter so töricht gewesen war …
Von dem Vorwurf getroffen, senkte Charlotte den Papierbogen, schloss ihre tränenden Augen und gönnte es sich, in Kummer und lauwarmer Reue zu baden. Sie malte sich aus, das Angebot des Weinhändlers wäre nicht vor einem Jahr, sondern gerade jetzt, zum passenden Moment gekommen und sie hätte die kleine Maschine in ihrem Bauch als Mitgift dabei. Freuen würde sich der Schwertfeger über so ein Siebenmonatskind und voller Dankbarkeit der Mutter und ihr eine Reise nach Paris spendieren. Paris, wo sie keine Menschenseele kannte, oder zur Kurpfuscherin nach Kaiserslautern, darum ging es leider in der Realität. Weil aber auch das Weinen gar keine Entscheidung brachte, schleppte sie sich zu dem Kasten, in dem die Elektrisiermaschine seit Wochen tatenlos vor sich hin wartete. Charlotte hob sie hoch und schob preußische Kriegsanleihen und andere Vermögenswerte unter sie. Anschließend nähte sie die Schmuckstücke, die in der Schatulle gewesen waren, in die Säume von Unterröcken und Kleidern. Das ist doch auch was, dachte sie, als sie fertig war. Nicht ganz so schwergewichtig wie der Weinhändler mit seinen Immobilien, aber immerhin. Außerdem konnte sie frei darüber verfügen. Mit dem Zipfel eines der Unterröcke wischte sich Charlotte das verquollene Gesicht ab und fragte sich zum wiederholten Mal, ob nun Felix oder der klapprige sächsische Baron der Vater war.
Weil aber Charlottes Natur nicht zum Trübsinn und schon gar nicht zur Verzweiflung taugte, sondern eher nach La Mettries Geschmack war, ritt sie schließlich auch wieder aus und genoss es, mit ihrem Gesicht die warme süße Luft zu durchschneiden. Sie besuchte eine ihrer Kinderfrauen, die an den Hängen des Donnersbergs lebte, aber mittlerweile so wirr im Kopf war, dass sie das Mädchen, das sie stundenlang auf ihrem Schoß geschaukelt und dem sie bis zu seinem vierzehnten Geburtstag die Flöhe vom Körper gezupft hatte, nicht mehr erkannte und nur blöd auf den Holznapf mit Brei starrte, der vor ihr stand. Charlotte gestand sich ein, dass sie mit ihr gern gesprochen hätte. Nicht über Paris, aber über Kaiserslautern. Einmal ritt sie ohne besonderen Grund die Strecke nach Dalsheim und wieder zurück. Als sie später im Spiegel sah, dass ihr Haar voller Kirschblütenblättern war, musste sie sogar lachen und vergaß, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Alle Wege in Richtung Muckentalerhof vermied sie. Sodass sie manchmal einfach nur ziellos lange Schleifen ritt, Böschungen hinauf und Böschungen hinunter. Bauern kamen ihr mit ihren Ochsengespannen entgegen, zogen die Hüte vor ihr, aber nie waren Hochstettler und seine Knechte unter ihnen.
Nur Nachschauen, ob die bestickten Pantoffel in ihrem Versteck den Winter überstanden hatten. Nur! Entweder waren sie längst aufgeweicht und vermoderte Relikte einer besseren Zeit oder, auch das wäre möglich, das Nest einer Familie Haselmäuse, was sich vielleicht als Entscheidungshilfe ausdeuten ließe. Möglicherweise hatte sie aber längst jemand geklaut. Deshalb wollte sie einfach nur nachschauen. Doch schon während des ersten scharfen Galopps auf der Höhe von Bolanden zog Charlotte ihrem Vorwand das allzu dünne Hemd aus und vertraute darauf, dass die
Weitere Kostenlose Bücher