Der elektrische Kuss - Roman
musste.
Kapitel 9
I n Worms schifften sie sich rheinabwärts ein. Die acht Gulden und dreißig Kreuzer, die sie für ihre Fracht bei der Gesellschaft von Johannes Wallrab zahlen musste, lieh sich Charlotte von Hochstettler aus, da sie über so gut wie kein Bargeld verfügte. Neben den Schlafstellen wurde ihnen Holz zum Feuermachen zugewiesen. Fleisch, Fisch, Brot und erstes Gemüse kauften sie zu überteuerten Preisen von Händlern an den Anlegestellen der kleinen Ortschaften, die sie passierten. Unaufgefordert und wortlos übernahm es Sarah, für die kleine Gruppe zu kochen. Wie überhaupt jeder schnell in seine Rolle rutschte.
Gepudert, geschminkt und noch für die Waschfrauen am Ufer und die Männer, die mit ihren Treidelpferden Schiffe stromaufwärts zogen, gut sichtbar durch einen großen gelben Hut, gespickt mit einer wippenden Straußenfeder, der so schräg saß, dass er kaum vor der Sonne schützte, zwang das Fräulein von Geispitzheim, Zollinspektoren und sonstige Finsterlinge, die sein Gepäck nach doppelten Böden abklopfen wollten, zu Stielaugen, devoten Kratzfüßen, und untertänigsten Wünschen für die weitere Reise. Charlotte wedelte arrogant mit ihren adeligen Papieren und Pässen, denen die Mutter unter Umgehung der Kanzlei das fürstliche Siegel hatte aufdrücken lassen. Dass bei diesen fulminanten Auftritten die braunen und dunkellila Täufer als stumme, nicht eindeutig definierbare, aber letztlich brave Entourage durchgingen, war fast logisch. Und beabsichtigt. Zumindest von Charlotte, die instinktiv begriff, dass Sektierer, die sich heimlich von kurpfälzischem Boden davonmachten, Argwohn erregten, als Spleen einer Dame mit Rang und Namen aber akzeptiert wurden. Ihr Kalkül ging auf. Man schenkte den Papieren der Hochstettlers so gut wie keine Aufmerksamkeit. Denn genauso hätte das Freifräulein ja eine Zwergin oder ein Mohrenkind samt dressiertem Äffchen dabeihaben können.
Samuel kaute schwer daran, fügte sich aber klugerweise in diese Komplizenschaft. Seine einzige passive Gegenwehr war, dass er Charlotte und ihre bühnenreife Aufmachung komplett übersah, dafür seine Bibel von morgens bis abends aufgeschlagen auf den Knien balancierte und ohne eine Miene zu verziehen las, während langsam Weinberge, Burgen und fröhlich winkende Menschen vorüberzogen. Die stoische Haltung war Fassade. In seinem Inneren kroch er zu dem barfüßigen Dreizehnjährigen mit Flicken am Hosenboden zurück, der genau wusste, aus welchem Astloch man welche Vogeleier holen konnte und wo hinter den Scheren ein Krebs angepackt werden musste, damit er einem nicht die Finger abzwickte. Komischerweise erinnerte er sich gleichfalls, als ob es gestern Nachmittag gewesen wäre, an das Mädchen mit den ernsten Augen und der Narbe am Kinn, das, etwa im gleichen Alter wie er, in der Mühle aufgewachsen war. Ein Katholikennest wäre das, sagte sein Vater. Versoffen und faul, wie sie dort waren, kamen sie schließlich um Haus und Hof und verschwanden irgendwann. Das Mädchen auch.
Zuvor aber stahl es Rote-Sommer-Rambour, die besten Äpfel im Hochstettlerschen Obstgarten, vom Baum. Fünf, sechs Früchte beulten die Taschen ihrer Schürze aus, zwei weitere hielt sie in einer Hand, und ein Apfel steckte zwischen ihren Zähnen. So erwischte er sie. Er stellte sich breitbeinig hin und grinste zu ihr hoch. Dabei wunderte er sich, wie ein Mädchen so gut und so hoch klettern konnte. Ihr armseliger Rock war viel zu kurz, ihre Beine schauten hervor, lang, dünn und braun gebrannt wie die eines Jungen. Die Angst in ihren Augen schimmerte im Schatten des Laubes auf wie ein Glühwürmchen. Die Strafe, die er sich ausdachte, war, sie noch eine Weile anzustarren, während sie starr auf einer Astgabel ausharrte. Auch sie schaute ihn an, ununterbrochen ernst. Dann trat er wortlos beiseite und ließ sie laufen. Mit allen Äpfeln. Seitdem schmeckten, wann immer er sie aß, Sommer-Rambour nach den Augen des Mädchens. Solche wunderbaren Äpfel würde es in der Neuen Welt ganz sicher nicht geben. Samuel hatte stattdessen plötzlich einen faden Geschmack im Mund.
Auch die Gewissheit würde weg sein, dass die Eule, wenn die Nacht zerfiel, zurück durch ihr Loch in seinen Heuboden flog und dort den Tag über reglos hockte. Samuel vermisste schon jetzt seine Pferde, vor allem Älbli. Er vermisste seinen gelben Hund und dessen Schnauze in seiner Kniekehle, und wenn er an den Klee und den Weizen dachte, der mittlerweile kräftig aus dem Boden
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