Der Engel Schwieg.
Rechteck verursachte ihr eine Angst, die allmählich zur Übelkeit wurde; es kreiste ihr vor den Augen, sie mußte sich zusammennehmen.
Dann fing sie an zu beten. Wenn sie Angst hatte, betete sie. Zwischendurch fielen ihr in unruhiger Folge die verschiedensten Dinge ein – ihr Mann, der nun sechs Jahre tot war, – er hatte mit
verzerrtem Gesicht im Fenster gestanden, als unten der erste
große Aufmarsch vorbeikam.
Sie dachte auch an die Geburt des Jungen im Krieg, an dieses winzige, magere Bürschchen, das nie sehr kräftig geworden war…
Dann hörte sie, daß er ins Badezimmer ging. Das ohnmächtige Wühlen in ihrer Brust ließ nicht nach, dieser Klumpen aus Schmerz und Unruhe, Angst und Mißtrauen und dem Wunsch zu weinen, den sie heftig unterdrücken mußte.
Als er aus dem Badezimmer kam, war die Mutter schon dabei,
vorne im Wohnzimmer den Tisch zu decken; es war aufgeräumt
und sauber, Blumen standen auf dem Tisch, Butter, Käse, Wurst und die braune Kaffeekanne standen dort, die gelbe Kaffeemütze und eine Dose Milch, und er sah auf seinem Teller eine große Blechschachtel mit Zigaretten stehen. Er gab der Mutter einen Kuß und spürte, daß sie zitterte; er blickte sie erschreckt und erstaunt an, als sie ganz plötzlich anfing zu weinen. Vielleicht weinte sie vor Freude. Sie hielt seine Hand fest und sagte leise, immer noch weinend: »Du mußt nicht böse sein, ich wollte es so nett machen.« Sie zeigte auf den Tisch, weinte heftiger, brach dann in ein wildes Schluchzen aus, und er sah ihr breites schönes Gesicht ganz in Tränen schwimmen, er wußte nicht, was er tun sollte, er sagte stammelnd: »Mein Gott, Mutter, es ist doch alles so schön.«
»Ja«, sagte er noch einmal. Sie blickte ihn prüfend an und ver- suchte zu lächeln.
»Wirklich«, sagte er, bevor er ins Schlafzimmer ging. Er zog schnell ein frisches Hemd an, knöpfte die rötliche Krawatte und
eilte wieder nach vorn. Die Mutter saß schon da, sie hatte die Schürze abgelegt, ihre Tasse aus der Küche mitgebracht und
lächelte ihm zu.
Er setzte sich und sagte: »Ich habe wunderbar geschlafen.«
Sie fand, daß er wirklich frischer aussah, sie nahm die Mütze von der Kanne und goß ihm ein und gab gleich einen dicken Strahl Büchsenmilch hinterher: »Hast du nicht zu lange gele-
sen?«
»Nein, nein«, sagte er lächelnd, »ich war müde gestern, zu müde.« Er öffnete die Schachtel, zündete eine Zigarette an, be- gann langsam den Kaffee umzurühren und blickte der Mutter ins Gesicht: »Es ist alles so schön«, sagte er.
Sie sagte, ohne den Ausdruck ihres Gesichts zu verändern: »Es ist Post gekommen.« Er sah, daß ihre Mundwinkel zitterten. Sie biß sich auf die Lippen, sie konnte nicht sprechen, so entstand ein trockenes sehr tiefes Schluchzen und er wußte plötzlich, daß etwas geschehen war oder geschehen würde. Er wußte es. Die Post hatte das alles verursacht, irgend etwas mußte mit der Post
sein. Er senkte den Blick, rührte in seiner Tasse, rauchte mit
heftigeren Zügen und trank zwischendurch. Man mußte ihr Zeit lassen, sie wollte nicht weinen, mußte aber sprechen, und man mußte ihr Zeit lassen, diesen langen und sehr trockenen Schluchzer erst ganz auszuholen, ehe sie weitersprechen konnte. Irgend etwas war mit der Post nicht in Ordnung. Er würde nie- mals im Leben dieses Schluchzen vergessen, in dem alles lag, das ganze Entsetzen, von dem keiner von ihnen damals etwas wissen konnte. Es schnitt, dieses Schluchzen. Die Mutter schluchzte, sie schluchzte nur ein einziges Mal, sehr lang und sehr tief, und er hielt immer noch den Blick gesenkt, sah nur die Oberfläche seiner Kaffeetasse, in der sich die Büchsenmilch nun zu einem hellen sehr gleichmäßigen sanften Braun verteilt hatte, er sah die Spitze seiner Zigarette, sah die Asche zittern, grau und silbern, und endlich spürte er, daß er aufsehen konnte.
»Ja«, sagte sie leise, »Onkel Edi hat geschrieben. Er ist Studi- enrat geworden, ist aber auch versetzt worden. Er schreibt, es kotzt ihn an.«
»Ja, ja«, sagte er, »jeden normalen Menschen kotzt es an.«
Sie nickte. »Und eine Pensionsabrechnung«, sagte sie, »es gibt wieder weniger.« Er legte seine Hand auf ihre, die klein, breit und verbraucht auf dem blütenweißen Tischtuch lag. Seine Be- rührung löste eine neue Folge tiefer, schneidender Schluchzer aus. Er nahm die Hand wieder weg und behielt die Erinnerung, daß die Hand der Mutter warm und rauh war. Er hielt den Blick gesenkt, bis die
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