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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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sie ihm nachblickte, und wandte sich manchmal, während er zur Straßenbahn ging, um zu winken.
    Fünf Stunden vor der Abfahrt des Zuges war er am Bahnhof. Ein paarmal lief er zwischen den Schaltern herum, studierte noch einmal die Abfahrtstafeln. Es war alles normal, die Men-
    schen kamen aus den Ferien zurück oder fuhren in die Ferien,
    die meisten lachten, sie waren glücklich, braungebrannt, heiter und sorglos, es war warm und schön: Ferienwetter…
    Er lief wieder hinaus, stieg in eine Straßenbahn, die ihn hätte nach Hause bringen können, sprang unterwegs ab und fuhr wie- der zum Bahnhof zurück. Auf der Bahnhofsuhr stellte er fest,
    daß erst zwanzig Minuten vergangen waren. Wieder ging er eine
    Zeitlang rauchend zwischen den Leuten herum, stieg dann wie- der in eine Bahn, irgendeine, sprang wieder ab und fuhr zum Bahnhof zurück, als hätte er gewußt, daß er acht Jahre auf Bahn- höfen sein würde, es zog ihn magnetisch zum Bahnhof…
    Er ging in den Wartesaal, trank Bier, wischte den Schweiß ab, und plötzlich fiel ihm die kleine Kollegin ein, die er ein paarmal nach Hause gebracht hatte; er suchte in seinem Notizbuch die
    Telephonnummer, rannte zum Automaten, warf Geld ein und
    wählte, aber als sich am anderen Ende eine Stimme meldete, brachte er kein Wort heraus und hing wieder ein. Er warf noch einmal Geld ein und wählte wieder, wieder kam diese unbekann- te Stimme, die Hallo sagte und einen Namen nannte, und er nahm seinen ganzen Mut zusammen und stammelte: »Kann ich Fräulein Wegmann sprechen; hier Schnitzler…«
    »Augenblick«, sagte die Stimme… und er hörte durch die Mu-
    schel das Wimmern eines Säuglings, Tanzmusik und eine
    schimpfende Männerstimme, eine Tür wurde geknallt. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, dann hörte er ihre Stimme, sie sagte »Ja?«, und er stammelte: »Ich bin es… Hans… kann ich Sie noch einmal sprechen, ich muß weg… zum Kommiß… heu- te noch…«
    Er merkte, daß sie sehr erstaunt war, und sie sagte: »Ja… aber wann und wo…«
    »Am Bahnhof«, sagte er, »sofort… an der Sperre…«

    Sie war sehr schnell da, eine zierliche kleine Blondine mit ei- nem runden, sehr roten Mund und einer hübschen Nase. Zur Begrüßung sagte sie lächelnd: »Das ist aber eine Überraschung.«
    »Was möchten Sie, was sollen wir tun?«
    »Wie lange ist noch Zeit?«
    »Bis zwölf.«
    »Gehen wir ins Kino«, sagte sie.
    Sie gingen in der Nähe des Bahnhofs ins Kino, in ein schmut- ziges kleines Kino, das man über einen Hinterhof betreten muß- te, und als sie im Dunkeln nebeneinander saßen, wußte er plötz-
    lich, daß er ihre Hände nehmen und festhalten mußte, solange
    der Film lief. Die Luft war heiß, es roch dumpf, und die meisten Sitze waren leer, es war ihm irgendwie widerwärtig, wie selbst- verständlich sie ihm ihre Hand ließ, aber er hielt sie zwei Stun- den lang fest, fast krampfhaft, und als sie aus dem Kino kamen, war es endlich dunkel, und es regnete…
    Als er mit ihr in den Park einbog, klammerte er sich rechts an seine Aktentasche und drückte sie mit dem linken Arm an sich, sie gab wieder nach: er spürte die Wärme ihres duftenden klei- nen Körpers, sog den Geruch ihrer feuchten Haare ein und küßte sie, auf den Hals, auf die Wangen, und er erschrak, als er ihren weichen Mund mit den Lippen berührte…
    Ihre Hände hatte sie fest und ängstlich auf seinem Rücken ver- klammert; die Aktentasche war ihm entglitten und er wurde sich plötzlich bewußt, während er sie küßte, daß er die Bäume und Sträucher zu beiden Seiten des Weges zu erkennen versuchte: er
    sah den silbrig feuchten Weg, der von Regen glänzte, die trie-
    fenden Sträucher und schwarzen Baumstämme, und den Him- mel, auf dem schwere Wolken hastig nach Osten jagten…
    Sie gingen ein paarmal die Wege auf und ab, küßten sich, und in gewissen Augenblicken glaubte er Zärtlichkeit für sie zu emp-
    finden, etwas wie Mitleid, vielleicht auch Liebe, er wußte nicht;
    er zögerte ihre Rückkehr in beleuchtete Straßen hinaus, bis es rings um den Bahnhof so still wurde, daß er glaubte, es müsse Zeit sein…
    Er zeigte an der Sperre seine Postkarte vor, ließ ihre Bahn- steigkarte lochen und war froh, daß der Zug schon dampfend bereit stand in der großen leeren Halle; er küßte sie noch einmal, stieg ein. Als er sich vorbeugte, um zu winken, hatte er Angst, sie würde weinen, aber sie lächelte ihm zu, winkte lange und heftig, und er fühlte, daß er erleichtert war, weil

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