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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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sagte er.
    In diesem Augenblick erst begriff er, was die Frage bedeutete. Sie bedeutete, daß er würde abfahren müssen und zwar an die- sem Tage noch, anderntags um sieben Uhr mußte er dreihundert Kilometer weiter nördlich sein, in der Kaserne einer fremden Stadt…
    Er legte die angebissene Brotscheibe zurück, es hatte keinen Sinn, Appetit vorzutäuschen. Die Mutter bedeckte wieder ihr Gesicht und fing an, heftig und merkwürdig lautlos zu weinen… Er ging in sein Zimmer und packte seine Aktentasche. Er knüllte ein Hemd hinein, eine Unterhose und Socken, Schreib- papier, dann räumte er die Schubladen aus und warf den Inhalt, ohne ihn anzusehen, in den Ofen, riß ein Blatt aus einem Heft, faltete es zusammen, zündete es an und hielt es unten an den Papierhaufen: Es dampfte erst nur dick und weißlich, langsam fraß sich das Feuer durch, bis es lodernd und summend oben aus dem Deckel schlug, eine schmale und heftige Flamme, in schwarzen Qualm getaucht. Während er alle Schubladen und Fächer noch einmal durchwühlte, ertappte er sich dabei, daß er dachte: Weg, nur schnell weg, weg von der Mutter, dem einzi- gen Menschen, von dem er hätte sagen können, daß er ihn lieb-
    te…
    Er hörte, daß sie mit dem Tablett in die Küche zurückging, er überquerte die Diele, klopfte flüchtig an die Milchglasscheibe und rief hinein: »Ich bin zum Bahnhof, bin gleich wieder da.«
    Sie antwortete nicht gleich, er wartete, und er spürte die kleine
    weiße Postkarte in seiner Hosentasche. Dann rief die Mutter:
    »Es ist gut, komm bald zurück. Auf Wiedersehen…«
    »Auf Wiedersehen«, rief er, dann stand er noch einen Augen- blick still und ging hinaus…
    Als er nach Hause kam, war es halb eins, und das Essen war fertig. Die Mutter trug Schüsseln, Bestecke und Teller ins
    Wohnzimmer…

    Jetzt in der Erinnerung erschien ihm dieser erste qualvolle Nachmittag schlimmer als der ganze Krieg. Sechs Stunden blieb
    er noch zu Hause. Immer wieder versuchte die Mutter, ihm Din-
    ge aufzudrängen, von denen sie glaubte, daß er sie unbedingt gebrauchen würde; besonders weiche Frottiertücher, Pakete mit Eßwaren, Zigaretten, Seife. Und die ganze Zeit über weinte sie. Er selbst rauchte, ordnete Bücher; wieder mußte der Tisch ge- deckt, Brot, Butter, Marmelade. Gebäck vorne ins Zimmer ge- tragen und Kaffee aufgebrüht werden.
    Dann, nach dem Kaffee, als die Sonne schon hinter dem Haus stand und vorne wohltuender Dämmer herrschte, ging er plötz- lich in sein Zimmer, klemmte die Tasche unter den Arm und kam in die Diele hinaus…
    »Was ist?« fragte die Mutter, »du mußt…«
    »Ja«, sagte er, »ich muß gehen«, obwohl sein Zug erst in fünf Stunden fuhr.
    Er setzte die Tasche ab und umarmte die Mutter mit einer ver- zweifelten Zärtlichkeit. Sie entdeckte, während sie ihre Hände über seine Hüften legte, die Postkarte in der Tasche und zog sie
    heraus. Plötzlich war sie ruhig, und auch das Schluchzen hörte
    auf. Die Postkarte in ihrer Hand sah sehr harmlos aus, das einzig Menschliche daran war der Krakel des Majors, und auch dieser hätte ebensogut von einer Maschine geschrieben sein können, von einer Majorsunterschriftmaschine… Gefährlich war nur das aufgeklebte weißleuchtende Rechteck, hellrot abgesetzt mit einem schwarzen großen R darin, ein winziges Fetzchen Papier, wie sie an jedem Postamt in ganzen Rollen täglich verklebt wur- den. Aber unter dem R entdeckte er jetzt eine Nummer; es war seine Nummer, das einzige, was die Karte von den anderen Kar- ten unterschied, die Nummer 846, und er wußte jetzt, daß alles in Ordnung war, es konnte nichts passieren, in irgendeinem Postamt stand diese Nummer neben einer Spalte, die seinen Namen trug. Es war seine Nummer, und er konnte ihr nicht ent- fliehen, er mußte diesem fettgedruckten R nachrennen, er konnte nicht fliehen…
    Er war die Einschreibenummer 846. sonst nichts mehr, und diese kleine Weiße Postkarte, dieses nichtige Stück schlechten billigsten Pappedeckels, von dem das Tausend, sogar bedruckt,
    höchstens drei Mark kostete und das portofrei ins Haus ge-
    schickt wurde, das nur den Kritzler eines Majors bedeutete, den Handgriff eines Schreibers in eine Kartothek und den weiteren Kritzler eines Postbeamten in seinem Buch…
    Die Mutter war ganz ruhig, als er ging, sie schob die Postkarte in seine Tasche zurück, küßte ihn und sagte leise: »Gott segne dich.«

    Er ging, sein Zug fuhr erst um Mitternacht, und es war gerade sieben. Er wußte, daß

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