Der Engel Schwieg.
Folge schneidender Seufzer, verhaltener Tränen vorüber war. Er wartete. Er dachte: das alles ist es nicht. Onkel Edi und die Pensionsabrechnung bringen sie nicht so vollkom- men aus der Fassung. Es mußte etwas ganz anderes sein, und plötzlich fiel ihm ein, daß es etwas sein mußte, das ihn betraf, und er spürte, daß er blaß wurde. Es gab wohl nichts, was die Mutter so aus der Fassung bringen würde als etwas, was ihn betraf. Er blickte einfach auf. Die Mutter hatte den Mund fest zugekniffen, ihre Augen waren naß, und sie preßte sich jetzt die Worte ab, hart und knapp öffnete sie den Mund. Sie sagte stok- kend: »Es ist eine Karte für dich gekommen, in der Diele – liegt
sie…«
Er stellte sofort die Tasse ab, stand auf und ging in die Diele – er sah die Karte schon von weitem, sie war weiß und vollkom- men normal, eine reichsgenormte Karte 15 mal 10 Zentimeter. Sie lag unschuldig auf dem Tisch neben der dunklen Vase mit Fichtenzweigen. Er ging sehr schnell darauf zu und nahm sie in die Hand, las die Adresse, sah den aufgeklebten weiß-rot- schwarzen Zettel, mit dem roten Rechteck, darin das sehr fette schwarze R, dann drehte er die Karte um, las zuerst nur die Un- terschrift, sie war unleserlich über ein sehr langes Wort ge- schrieben, das Wehrbezirkskommando hieß. Darunter stand getippt: Major.
Er war ganz still, und nichts hatte sich geändert. Es war nur eine Postkarte gekommen, eine ganz normale Postkarte, und das einzige handgeschriebene Wort war dieser unleserliche Kritzler irgendeines Majors. Das grünliche Licht aus dem Oberteil der Korridortür ließ alles wie in einem Aquarium schwebend er- scheinen… die Vase stand noch da, sein Mantel hing an der Garderobe, Mutters Mantel hing da, ihr Hut daneben, Mutters Sonntagshut mit dem zierlichen weißen Schleier oben, jener Hut, den sie sonntags in der Kirche trug, wenn sie neben ihm kniete, still betend, während er langsam die Seiten des Meßbuches um- schlug. Es war alles in Ordnung, draußen durch die offene Kü- chentür hörte er das Lachen der Schreiner im Hof, der Himmel war wieder klar und heiter, das Gewitter vorüber, es war nur eine Postkarte gekommen, flüchtig unterkritzelt von irgendeinem Major, der sonntags vielleicht nicht weit von ihm in der Kirche kniete, seine Frau beschlief, seine Kinder zu anständigen deut- schen Menschen erzog und werktags stoßweise Postkarten un- terschrieb. Es war alles sehr harmlos…
Er wußte nicht, wie lange er dort mit der Postkarte gestanden hatte, aber als er zurückkam, saß die Mutter da und weinte. Sie hatte einen Arm aufgestützt, hielt den zuckenden Kopf in dieser aufgestützten Hand, die andere lag untätig, wie nicht zu ihr ge- hörend, arm, breit und verbraucht im Schoß.
Er ging auf sie zu, hob ihren Kopf hoch und versuchte, sie an-
zusehen, aber er ließ sofort davon ab. Das Gesicht der Mutter
war verzerrt, fremd, er hatte es noch nie gesehen, ein Gesicht, das ihn erschreckte, zu dem er keinen Zutritt hatte und keinen verlangen durfte…
Er setzte sich schweigend, schlürfte am Kaffee und nahm eine Zigarette, ließ sie aber plötzlich fallen und starrte geradeaus.
Dann sagte eine Stimme hinter der aufgestützten Hand her: »Iß doch was…«
»Du mußt nicht böse sein.«
Er goß Kaffee ein, tat Milch hinzu und ließ zwei Stücke Zuk- ker hineinfallen, dann zündete er die Zigarette an, nahm die Karte aus der Tasche und las leise vor: »Sie haben sich am vier- ten Juli, morgens um sieben Uhr zu einer achtwöchigen Übung in der Bismarckkaserne in Adenbrück einzufinden.«
»Mein Gott«, sagte er laut, »sei doch vernünftig, Mutter, acht Wochen.«
Sie nickte.
»Das mußte kommen, ich wußte ja, daß ich zu einer achtwö- chigen Übung wegmuß.«
»Ja, ja«, sagte sie. »Acht Wochen.«
Sie wußten beide, daß sie logen; sie logen, ohne zu wissen, warum sie logen. Sie konnten es nicht wissen, aber sie logen und
wußten es. Sie wußten, daß er nicht nur für acht Wochen weg-
ging.
Sie sagte wieder: »Iß doch was.«
Er nahm eine Scheibe Brot, schmierte Butter darüber und legte Wurst darauf und fing an, sehr langsam und ohne Appetit zu kauen.
»Gib mir die Karte«, sagte die Mutter.
Er gab sie ihr.
Ihr Gesicht hatte einen seltsamen Ausdruck, sie war sehr ruhig, sie blickte die Karte genau an, las sie leise durch.
»Was ist heute?« fragte sie, als sie die Karte auf den Tisch leg- te.
»Donnerstag«, sagte er.
»Nein«, sagte sie, »der wievielte?«
»Der 3.«,
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