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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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wußte er, daß sie weinte. Es war nichts zu hören, er entnahm nur den Bewegungen des Bettes, daß sie mit der freien linken Hand in ihrem Gesicht herumwischte, aber auch das war nicht klar, und doch wußte er, daß sie weinte. Er setzte sich auf, spürte im gleichen Augenblick die Kälte, die unter der Tür her aufs Bett zog, er beugte sich ganz nah über sie, fühlte ihren Atem wieder, der sich auf seinem Gesicht wie ein Strom erbreiterte und milde an ihm vorbeifloß, so daß er die sanfte Berührung bis an die Ohren spürte. Auch als seine Nase ihre eiskalte Wange berührte, sah er noch nichts; es war ganz finster geworden um sie herum, und plötzlich hatte er eine ihrer Tränen auf der Lippe. Er hatte immer gehört, daß Tränen salzig sind, salzig wie Schweiß, und manchmal war ihm der Schweiß an den Wangen herunter in den Mund geflossen, und er wußte jetzt, daß Tränen salzig sind, salzig und warm wie Schweiß.
    »Leg dich«, sagte sie leise, »du erkältest dich, es zieht so…«
    Er blieb über ihr; er wollte sie sehen, aber er sah nichts, bis sie plötzlich die Augen aufschlug: da sah er den sanften Glanz ihrer Augen und die schimmernden Tränen. Er legte sich langsam zurück und suchte von neuem ihre Hand, die ihm entglitten war,
    während er sich aufrichtete. Sie lag lautlos und er wußte, daß sie
    immer noch weinte, manchmal bewegte sich ihr linker Arm leise zum Gesicht hin. Er wandte sich ganz plötzlich zu ihr und blies ihr seinen Atem ins Gesicht und glaubte zu spüren, daß sie lä- chelte. Er blies noch einmal.
    »Es ist schön«, sagte sie leise, »sehr warm.« Sie blies ihm auch ins Gesicht, sehr heftig, und es war wirklich warm, sehr wohltu- end. Eine ganze Zeitlang bliesen sie sich gegenseitig ins Ge-
    sicht…
    Dann küßte er sie im Dunkeln, spürte aber eine ganz leise, kaum merkliche Abwehr und ließ sich wieder in seine alte Lage zurückgleiten. »Ich glaube«, sagte er, »ich liebe dich wirk- lich…«
    »Oh ja«, sagte sie, »wirklich, ich liebe dich…« Plötzlich muß- te er gähnen, es zuckte wie ein Krampf in ihm hoch, eine unend- liche Müdigkeit. Sie lachte und legte den Arm um seinen Hals, und ihm schien, als gähne sie auch, er küßte sie flüchtig auf die Wange und es war ihm, als habe er sie noch nie geküßt, sie kam ihm wie eine ganz fremde Frau vor…
    Er legte seinen Arm um ihre Schulter, zog sie ganz nahe an sich heran und schlief ein, sein Gesicht an ihres gepreßt, und sie wechselten im Schlaf ihre warmen Atemstöße wie Zärtlichkei- ten…

XV
–––––––––

    Als sie den Schrank abrückte, stürzte der Putz von der Wand, ein großer Placken, dessen Risse sich geschwind erbreiterten; es klatschte schwer an den Schrankseiten vorbei, verteilte sich schnell über den Boden, ein kalkiges dreckiges Geröll, und sie hörte, daß es sich hinter der Rückwand des Schrankes staute, während das nackte Mauerwerk sichtbar wurde. Als sie den Schrank mit einem Ruck zur Seite bewegte, löste sich die Stau- ung, und es rollte zwischen den vier Beinen heraus; Dreck, stau- biger kalkiger Dreck, eine Wolke stob auf, die sich über alle Gegenstände des Zimmers lagerte: ein feiner ekelhafter Puder, und sie hörte es unter ihren Füßen knirschen; wo sie auftrat, war ein trockener Kalkbrei, der sich in den groben Rillen des Bodens festsetzte…
    Sie fühlte, daß ihr die Tränen kamen, ein unbekanntes schmerzhaftes Gewölle der Verzweiflung ihre Kehle füllte, ein Wulst von Schmerz, der heraus wollte, aber sie würgte ihn hin- unter und ging mit zuckendem Gesicht wieder an die Arbeit. Sie öffnete das Fenster, fegte den Putz, eine weiße Wolke vor sich hertreibend, und fing an, alles zum zweiten Male mit dem Staub- lappen abzureiben. Insgeheim verfluchte sie diesen plötzlichen Trieb, der sie veranlaßt hatte, sauber zu machen. Woher kam er nur? Sie wußte es nicht. Dieser Trieb nach Ordnung und Sau- berkeit war ganz neu, und sie wußte, daß es sinnlos war. Vorher schien alles sauberer gewesen zu sein: wo sie den Boden naß gewischt hatte, wurden nun Flecken und häßliche Kreise sicht- bar: uralter eingetretener Kalk, den man vorher nicht bemerkt hatte: alle ihre Mühen brachten nur eine unheimliche Transpa- renz widerlicher Flecken zum Vorschein, die unausrottbar er- schien. Auch die Möbel sahen nun, nachdem sie sie zum zweiten Male abgerieben hatte, schäbiger aus als vor der ersten Reini- gung; ausgehauene Stellen und Splitterlöcher waren nun erst
    richtig

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