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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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Ich habe mir
    alles genau angesehen, den ganzen Nachmittag lang. Jemand hat
    mir sogar genau die Zeiten gesagt, wann die Züge kommen« – Er griff in die Tasche des Mantels, der über der Stuhllehne hing und nahm einen Zettel heraus – »Morgens um fünf, dann gegen elf und nachmittags kurz nach vier und um sechs, sie fahren ganz regelmäßig. Man müßte einen Wagen haben. Um fünf kann man noch nicht gehen, weil Sperrstunde ist. Willst du Kaffee?«
    »Ja«, sagte sie.
    Sie nahm die Tasse von dem Stuhl, der an ihrer Seite neben dem Bett stand, und hielt sie ihm hin. Er goß ein.
    »Ja«, sagte er, »wer weiß, was bis Ende Juni ist, bis Mitte Juni. Wir haben Geld und Marken, Brot und Tabak, und ich werde
    jeden Tag hundert Briketts holen, das genügt. Ich habe gehört,
    daß man für fünfzig Briketts ein Brot bekommt und für zehn eine Zigarette.«
    »Ja«, sagte sie, »das wird stimmen. Brot kostet dreißig, und die Zigarette sechs, und im Sommer sind die Kohlen billig…«
    »Sie steigen im Preis, wenn das Thermometer fällt – aber dann
    wird auch das Brot steigen – im Winter ist der Hunger schlim- mer.«
    »Wir wollen noch nicht an den Winter denken.«
    »Nein«, sagte er, »um Gottes willen, wir wollen noch nicht an den Winter denken.«
    »Ich bin sehr glücklich«, sagte sie langsam.
    »Ich auch«, sagte er, »ich weiß nicht, ob ich jemals so glück- lich war.«
    Sie schwiegen eine Weile und das Rauschen des Regens war unvermindert, in der feuchten Dämmerung draußen standen die
    triefenden Bäume, und es gab jedesmal ein klatschendes Ge-
    räusch, wenn sich von der Decke ein Tropfen löste…
    »Willst du rauchen?« fragte er, aber sie antwortete nicht, und als er sich umwandte, sah er, daß sie eingeschlafen war; sie lä- chelte im Schlaf, und er rückte näher, bis ihr warmes Gesicht an
    seiner Brust lag.
    Ich hebe sie, dachte er, ich kenne sie, und vieles ihr werde ich noch kennen lernen, aber soviel es auch je sein mag, es wird immer wenig sein fast nichts.

XVI
–––––––––

    Er war sehr müde. Seit langem war er nicht so früh aufgestan- den. Er schlief fast. Es war sehr kühl, und selbst die starren, kaum merklich flackernden Flämmchen der dünnen Kerzen schienen zu frieren. Sie standen gelb und steil, mager und ärm- lich vor diesem bläulichen Dunkel hinter dem Altar, von dem er nicht erkennen konnte, ob es eine getünchte Wand oder ein ver- blichener Vorhang war. Auch die Kerzenleuchter waren schäbig, ebenso flach wie das etwas schiefe Tabernakel, das sie flankier- ten. Die Leute hockten oder knieten stumm da, und manche rochen schlecht, so wie Leute riechen, die Hunger haben und ungelüftet wohnen: nach Kohl und kaltem Ofenqualm. Die Nak- ken, die er vor sich sah, waren dünn, Haare kringelten unter den Kopftüchern der Frauen hervor, und in dieser demütigen, muffi- gen Stille hörte er die Stimme des Priesters ruhig und gleichmä- ßig sprechen, wie jemand, der viel Zeit hat: Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam. Amen.
    Er hatte noch nie einen Priester gehört, der den Satz bei jedem Kommunikanten ganz aussprach. Die meisten hatten immer nur gemurmelt und im Weitergehen weiter gemurmelt, aber dieser
    blieb stehen und sagte vor jedem, dem er die heilige Hostie gab,
    den ganzen Spruch. Die Kommunion schien unendlich viel Zeit in Anspruch zu nehmen. Irgendwo hinter ihm mußten auch die Türen undicht sein, es zog. Mauerritzen und Fenster waren mit Holzplatten zugestellt, und die Holzplatten hatten sich vor Feuchtigkeit geworfen, waren gequollen und lösten sich in ver- schiedene Schichten auf, zwischen denen eine dreckige Brühe herauskroch: der Leim, der sie einmal zusammengehalten hat- te…
    Vorne, wo der Altar war, mußte ein gotischer Bogen, der ins Hauptschiff geführt hatte, zugemauert oder durch ein großes Tuch verhängt sein, noch immer nicht konnte er feststellen, ob
    es Mauer oder nur eine Art Kulisse war. Sichtbar waren nur die
    vergoldeten, sich spitzbogenförmig vereinigenden Streben eines imitiert gotischen Pfeilers, dessen Endpunkte genau über der Mitte des Altars zusammenliefen.
    Alles ging so langsam. Immer noch teilte der Priester die Kommunion aus an die paar Leute, die zur Kommunionbank gingen, und seine Stimme murmelte immer wieder ausführlich und feierlich über jedem dieser armen grauen Köpfe, während er die schmale Scheibe der Hostie hochhielt: Corpus Domini nostri Jesu Christi…
    Der Meßdiener hatte den

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