Der Engel Schwieg.
schluckte, spürte er einen heftigen Schwindel: das Stück Brot mit Marmelade schien ir- gendwo in einen verborgenen Angelpunkt seines Körpers hi- neingefallen zu sein und ihn aus dem Gleichgewicht geworfen zu haben. Ihn schwindelte heftig, alles kreiste um ihn, obwohl er die Augen geschlossen hatte, es war wie ein heftiges, nicht sehr unangenehmes Pendeln, er selbst schien wie eine Art Schlegel in einem dunklen dumpfen Raum hin und her zu schwingen.
Er öffnete die Augen wieder, trank einen Schluck, biß wieder ins Brot, und je mehr er aß und trank, um so mehr nahm dieses heftige pendelnde Schwingen ab…
Er nahm ein neues Marmeladenbrot und spürte, daß ihm woh- ler wurde. Der Kaffee war herrlich. Er nahm den Zigarettenrest aus seiner oberen Tasche und sagte zu ihr: »Gib mir doch Feuer, bitte.« Sie nahm den Fidibus von der Tischkante…
»Wozu hast du dich entschlossen«, fragte sie, »was willst du tun?«
»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, aber ich werde et- was tun. Ich freue mich sogar.«
»Wirklich?«
»Wirklich«, sagte er, »ich freue mich, etwas zu tun; wir wollen noch darüber sprechen. Hier.« Er zog den Schal aus der Tasche und entfaltete ihn vor ihrem Gesicht – »ich möchte dir das schenken…«
»Wie schön!« sagte sie, sie nahm das Tuch in ihre Hände, spreizte die Finger und ließ es wie einen Schleier darüber liegen.
»Schön«, sagte sie, »sehr schön, ich bin sehr froh…«
»Ich habe auch Wein«, sagte er, »eine ganze Flasche Wein, etwas Brot und einen Apfel.«
»Einen Apfel«, sagte sie, »das ist wirklich eine Seltenheit; um diese Zeit gibt es nicht einmal auf dem Schwarzmarkt Äpfel…«
Er drückte die Zigarette aus und stand auf: »Komm«, sagte er leise, »geh mit mir, gehst du mit?«
»Ja«, sagte sie. Er blieb wartend am Tisch stehen und sah zu,
wie sie den Kerzenleuchter vom Schrank nahm, die Zigaretten in
ihre Tasche steckte und die Streichhölzer nahm; ihr Gesicht war
sehr ernst, sie weinte fast. Er sah es und ging auf sie zu. »Wenn du nicht möchtest«, sagte er,»wenn du nicht mit mir gehen möchtest – ich werde nicht böse sein; ich liebe dich sehr.«
»Nein«, sagte sie, und er sah, daß ihre Lippen zuckten, »ich will sehr gern mit dir gehen… ich bin nur traurig…«
»Warum?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie. Er öffnete die Tür, knipste die Stehlampe aus und schob sie langsam vor sich her, indem er sie an der Schulter gefaßt hielt. Im dunklen Flur hielt er sie fest, bis er die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und das Licht dort ange- knipst hatte.
»Komm herein«, sagte er.
Er ließ ihre Schulter los und winkte ihr mit dem Kopf. Sie kam sehr langsam näher. Er schloß die Tür hinter ihr.
Sie setzte sich aufs Bett, und er rückte den Tisch nahe heran, so daß sie ihre Arme aufstützen konnte. »Hast du Gläser?« fragte
er…
»Ja, im Schrank, dort«, sie zeigte mit dem Finger in die Ecke, wo es trotz des Lichtes dunkel war. »in einem Karton – auch ein Korkenzieher ist da.«
Er wühlte im Dunkeln in dem staubig riechenden Schrank her- um, bis er an den klirrenden Karton stieß.
»Komm her«, sagte sie. Sie nahm ihm die Gläser ab und wischte sie sorgfältig mit dem Schal aus: er sah, während er die
Flasche öffnete, daß sie in dem matten Schein der Lampe blink-
ten. Er goß die Gläser voll und setzte sich neben sie.
»Komm«, sagte er leise und hob sein Glas, »du bist jetzt meine Frau, willst du es sein?«
»Ja«, sagte sie ernst, »ich will es.«
»Ich werde dich nicht verlassen, solange ich lebe.«
»Ich werde bei dir bleiben, ich freue mich.« Sie lächelten sich zu und tranken.
»Ein guter Wein«, sagte sie, »sehr mild und schön.«
»Es ist Meßwein«, sagte er, »ich habe ihn geschenkt bekom- men.«
»Meßwein?« fragte sie; er sah, daß sie erschrak; sie rückte das
Glas weg und sah ihn an.
»Keine Angst«, sagte er und legte seine Hand für einen Au- genblick auf ihren Arm, »es ist Wein, nur Wein. Glaubst du denn daran?«
»Ja, ja«, sagte sie, »ich glaube daran. Du nicht?«
»Doch… ich hatte auch Angst, jetzt nicht mehr.«
»Manchmal«, sagte sie leise, »habe ich gewünscht, ich glaubte nicht daran, aber ich konnte es nicht ändern: ich glaube daran. Ich wünschte nur, ich könnte den Wein trinken, wenn er nicht nur Wein wäre. Ich bin sehr traurig.«
»Ich auch«, sagte er, »ich bin traurig. Wir werden sehr oft trau- rig sein.«
Sie zog das Glas zu sich heran und trank mit ihm.
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