Der Engelmacher
bestimmt. An ihrem 18. Geburtstag hätten sie das Geld erhalten sollen.
Aber das war noch nicht alles. Irma Nussbaum hatte gesehen, dass ein Lieferwagen dem Doktor eine Kiste gebracht hatte, auf der sehr groß das Symbol für radioaktive Strahlung abgebildet war, und einen Tag später war ein Mann aus Deutschland bei ihm zu Besuch gewesen, mit einem Kölner Kennzeichen. Auf ihre Nachfrage hin hatte der bestätigt, dass es tatsächlich schlecht um die Kinder stand.
»Er ist über eine Stunde im Haus geblieben«, erzählte Irma, »und als er wieder nach draußen kam, sah er aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er setzte sich kurz in sein Auto, aber stieg sofort wieder aus. Ich bin zu ihm hinübergegangen, um zu fragen, was los ist, vielleicht irgendwas mit den Kindern, hab ich gesagt. Er guckte so, als hätte ich ihn bei irgendwas erwischt, und da wusste ich genug. Es steht nicht gut um sie. stimmt’s?, hab ich gefragt. Erst hat er gezögert, aber dann den Kopf geschüttelt. Nein, hat er gesagt, nicht sonderlich. In so einem Ton, als ob, na ja, ihr wisst schon. Und dann hat er mich gefragt, ob ich eine gewisse Frau Maenwout kenne. Frau Maenhout, meinen Sie sicher, hab ich gesagt, das war die Haushälterin vom Herrn Doktor. Da wollte er wissen, was mit ihr passiert ist, und ich hab gesagt, sie ist die Woche vorher in dem Doktorhaus von der Treppe gefallen. Auf Anhieb tot. Und ich hab ihn gefragt, warum er das denn wissen wollte. Nur so, hat er gesagt, nur so, er hätte da so was gehört. Er hat wirklich einen ganz verwirrten Eindruck gemacht, weil dann ist er plötzlich in sein Auto gestiegen und weggefahren, ohne noch einen Ton zu sagen.«
Die Abwesenheit des Doktors bei dem Begräbnis, die Neuigkeit über das Testament Charlotte Maenhouts, die Geschichte von Irma Nussbaum: Schnell zog man die naheliegende Schlussfolgerung.
»Die Söhne des Doktors sterben.«
»Dann ist es also doch, ihr wisst schon …«
»Wahrscheinlich Leukämie«, sagte Léon Huysmans. »Das kommt oft vor bei kleinen Kindern. Sehr tödlich.«
»Das war vorauszusehen.«
Noch sicherer wurden die Dorfbewohner ihrer Sache, als sich in den folgenden Wochen herausstellte, dass die Praxis Doktor Hoppes immer öfter geschlossen blieb. Das Telefon wurde nicht mehr abgenommen, und das Tor blieb verschlossen, sodass verschiedentlich Patienten zu einem anderen Arzt mussten. Es regte sich zwar Unzufriedenheit darüber, aber in aller Regel brachte man Verständnis für die Situation auf.
»Er muss sich um seine Kinder kümmern.«
»Es steht wahrscheinlich immer schlechter um sie. Darum sieht man sie auch nicht mehr draußen.«
»Wie schmerzhaft, erst seine Frau und jetzt …«
Von allen Seiten wurde dem Doktor Hilfe angeboten: Frauen wollten sich um den Haushalt kümmern, Männer erboten sich zum Rasenmähen, aber er lehnte stets höflich dankend ab. Lediglich als Martha Bollen ihn wissen ließ, er könne seine Einkäufe auch bei ihr bestellen und sich nach Hause bringen lassen, ging er sofort auf ihren Vorschlag ein.
»Er will jetzt natürlich so viel wie möglich bei ihnen sein. Das ist ja nur allzu verständlich«, sagte Martha, die die Einkäufe stets persönlich ablieferte und immer noch eine kleine Überraschung für die Kinder mit in die Tüten stopfte.
Bei einer dieser Anlieferungen konnte sie sich schließlich nicht mehr zurückhalten und sprach den Doktor an: »Herr Doktor, ist es wahr, dass …«
Sie brach den Satz ab, weil sie dachte, er würde schon wissen, worauf sie hinauswollte.
»Was?«, fragte er jedoch. »Was soll wahr sein?«
»Das über die Kinder«, versuchte sie es.
An seinem Blick sah sie, dass er leicht erschrocken war. Dennoch tat er, als hätte er sie nicht verstanden.
»Was denn über die Kinder?«
Nur sehr widerstrebend sprach sie daraufhin den Namen jener schrecklichen Krankheit aus, die zehn Jahre zuvor auch ihren eigenen Mann dahingerafft hatte.
Der Doktor runzelte die Augenbrauen und schüttelte den Kopf.
»Krebs? Nein, soweit ich weiß, nicht.«
Die Antwort kam ihr vorgeschoben vor, und deshalb fragte sie nicht weiter nach. Für sie war damit deutlich, dass er nicht darüber sprechen wollte oder konnte.
»Er ist innerlich noch nicht so weit«, erklärte sie später ihren Kunden. »Er muss erst noch lernen, es innerlich zu akzeptieren. Als mein Mann krank wurde, hat es auch drei Monate gedauert, bis ich es den Leuten im Laden erzählen konnte.«
Zwei Wochen lang blieb die schlechte Neuigkeit über
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