Der Engelmacher
Sandmännchen gesungen, und eines Abends, etwa eine Viertelstunde, bevor die Kleinen ins Bett mussten, hatte Gabriel plötzlich gesagt: »moe« (müde). Sie hatte nicht gleich begriffen, was er meinte, aber als Raphael kurz darauf ebenfalls auf Niederländisch »slapen« (schlafen) sagte und Michael mit »Welterusten« (Gute Nacht) reagierte, wusste sie, dass die Drillinge spontan Worte aus dem Lied benutzt hatten.
Als sie ein paar Tage später ihrer Freundin und ehemaligen Kollegin Hannah Kuijk davon erzählte, sagte die: »Das kommt, weil sie keine Mutter haben. Dadurch sind sie an keine Muttersprache gebunden.«
Sie fand diese Erklärung ziemlich weit hergeholt, woraufhin ihre Freundin zu bedenken gab, dass die drei möglicherweise durch unsichtbare Nervenbahnen miteinander zu einem einzigen großen Supergehirn verbunden waren. Von so etwas hatte auch Frau Maenhout schon gehört. Angeblich konnten Mehrlinge auch gegenseitig ihre Gedanken lesen oder die Gefühle der anderen fühlen, selbst wenn sie meilenweit voneinander entfernt waren. Aber sie hielt sich dennoch lieber an die einfache Erklärung, dass sie die Intelligenz von ihrem Vater hatten, so wie sie leider auch seine Verschlossenheit geerbt zu haben schienen. Ihrer Sprachbegabung zum Trotz hielten die Drillinge sich nämlich sehr damit zurück, ihre Gefühle auch in Worte zu fassen.
In den fünf Stunden, die Frau Maenhout täglich auf die Kinder aufpasste, vormittags von halb neun bis halb zwölf und abends von sechs bis acht, fand sie permanent irgendeine Beschäftigung für die Kleinen. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie noch so viel Enthusiasmus und Energie aufbringen konnte. Sie schnitt Grimassen, verdrehte die Augen, baute hohe Türme aus Holzklötzen und Schachteln, nahm die Kinder eins nach dem anderen auf den Schoß und spielte Hoppe-Hoppe-Reiter, ließ Spielzeugautos über unsichtbare Straßen und hölzerne Züge durch dunkle Tunnel fahren, und sie erzählte Märchen und Geschichten, wobei sie in die Rolle von Hexen, Feen oder Königinnen schlüpfte. Aber trotz alledem, trotz all ihrer Bemühungen brachte sie keines der drei Kinder zum Lachen oder auch nur zum Kichern, von seltenen Ausnahmen abgesehen. Andererseits heulten oder schmollten sie auch wenig.
»Das kommt schon alles in Ordnung, Charlotte«, meinte Hannah Kuijk dazu. »Die Kinder haben halt ein Trauma weg, weil sie in ihren ersten Lebensmonaten keine Liebe bekommen haben. Von der Mutter nicht, die ist nämlich tot, und vom Vater schon gar nicht, dafür ist der ein viel zu gefühlloser Klotz. Schon allein, dass sie ›Vater‹ zu ihm sagen und nicht ›Papa‹ oder ›Paps‹ – das zeigt doch, dass er offenbar einen gewissen Abstand halten will. Wahrscheinlich sagen die Kinder später auch Sie zu ihm statt du.«
»Aber er macht ständig Fotos von ihnen«, hielt Frau Maenhout dagegen, »das zeigt doch, dass sie ihm viel bedeuten.«
»Das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich glaube, das ist vor allem Sublimierung. Damit versucht er zu kompensieren, dass er sie nicht richtig lieben kann. Und bildet sich ein, dass vielleicht auf die Art und Weise trotzdem ein Band zwischen ihm und den Kindern entsteht. Nein, Charlotte, du musst jetzt einfach durchhalten. Den Kindern tut es bestimmt gut, dass du da bist. So haben sie zumindest jemanden, der ihnen Gefühle entgegenbringt.«
»Ich werd’s im Kopf behalten, Hannah.«
5
»Noch ein Pfund von diesen herrlichen Spekulatius.«
»Für die Kinder vom Herrn Doktor?«
Frau Maenhout lachte und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, für mich.«
Martha Bollen fingerte in dem großen Glas mit den selbst gebackenen Spekulatius, das auf dem Tresen stand. Sie tat die Kekse in eine Papiertüte und stellte diese in eine der kupfernen Waagschalen, während sie auf der anderen Seite ein Gewicht von einem halben Kilo hineinlegte.
»Ich tu noch drei Stück extra dazu«, sagte die Verkäuferin mit einem flüchtigen Blick auf den Zeiger. »Für die Kleinen. Mit vielen Grüßen von Tante Martha aus dem Laden, kannst du ja dazu sagen.«
Frau Maenhout wollte die Kekse schon abschlagen – die Kinder des Doktors durften keine Süßigkeiten essen –, aber weil sie Angst hatte, dass Martha wieder alle möglichen unangenehmen Fragen stellen würde, nickte sie nur und sagte: »Das ist aber nett. Vielen Dank!«
Sie steckte die Tüte in ihr Einkaufswägelchen zu dem frischen Gemüse, das sie fast täglich für den Haushalt von Doktor Hoppe holen kam. Auch
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