Der Engelmacher
Chevalier.
»Ja genau, perfektes Deutsch.«
»Und wie klangen ihre Stimmen?«
»Sie waren schwer zu verstehen. Als ob sie die Zähne nicht auseinanderkriegten.«
»Kriegen sie auch nicht«, wusste der lange Meekers. »Das kommt durch die Narbe. Das ist alles wildes Fleisch.«
»Es sah zumindest nicht sehr appetitlich aus.«
»Und dann?«
»Der eine hat dann noch gefragt, was ich gerade mache, und ich hab gesagt, ich lerne für die Schule. Und er: Wo ist die Schule? Und ich: In Hergenrath. Und dann er wieder: Wo ist Hergenrath? Und ich hab aus dem Fenster gezeigt und gesagt: Na, da so. Und dann hat einer von seinen Brüdern noch gefragt, ob das weit weg ist, und ich hab gesagt: Zwanzig Minuten Bus fahren. Und er hat gesagt: Ja, das ist weit weg.«
»Klingt nicht so, als ob die besonders schlau wären«, bemerkte der lange Meekers.
»Nee, so sahen die auch echt nicht aus.«
»Und dann, Julius?«, drängte Seppe von der Bäckerei.
»Nichts weiter, dann stand plötzlich Frau Maenhout in der Tür, so mit den Händen breit in den Seiten. Und sie war voll sauer und hat gesagt, sie dürfen nicht ins Wartezimmer. Also sind sie wieder weggelaufen, aber erst …«
»Aber erst was?«, fragte Robert Chevalier.
»Erst hat einer von ihnen noch die Hand ausgestreckt und mir an die Oberlippe gefasst. Ohne Scheiß jetzt, so als ob er fühlen wollte, ob die echt ist. Das ging so plötzlich, ich konnte gar nichts machen, Alter.«
»Ganz schön frech«, sagte Robert entrüstet. Er blickte finster in Richtung des Doktorhauses und rief unvermittelt: »Schaut mal!« Ohne den Blick abzuwenden, zog er den langen Meekers am Ärmel und zeigte auf das Haus: »Da sind sie, Mann! Da, hinter dem Fenster im ersten Stock!«
Die anderen folgten seinem Blick und sahen nun ebenfalls die drei kahlen Schädel der Hoppe-Brüder hinter dem Fenster. Eindeutig hatten sie die Kinder an der Haltestelle beobachtet und duckten sich nun schnell, als Seppe von der Bäckerei herausfordernd mit der Faust zu ihnen herübergestikulierte. Kurz darauf kamen die Köpfe aber schon wieder zum Vorschein, alle drei gleichzeitig, so als gehörten sie zu ein und demselben Körper.
8
Es war vielleicht ein zu großer oder zu plötzlich unternommener Vorstoß, dass Frau Maenhout bei Doktor Hoppe darauf drang, er solle nach den großen Ferien des Jahres 1987 seine Söhne in den Kindergarten schicken – im September würden sie drei Jahre alt. Doch die Argumente, mit denen er dagegen anzukämpfen versuchte, konnte sie Stück für Stück widerlegen.
»Sie sind noch zu jung«, sagte er.
Sie entgegnete, das Mindestalter für den Kindergarten in Belgien sei zweieinhalb Jahre. Das sei also kein Problem.
Darauf erwiderte er, sie seien noch nicht reif dafür. Worauf sie entgegnete, sie habe noch nie Kinder gesehen, die ihrem Alter so weit voraus gewesen seien.
»Ihre Gesundheit macht das nicht mit. Sie ermüden zu schnell.«
Sie hielt dagegen, die Jungen könnten ja halbtags anfangen. Das sei nicht unüblich. Er führte an, seine Söhne könnten sich im Kindergarten mit Infekten anstecken, worauf sie kühn entgegnete, das Risiko sei zu Hause genauso groß. Da war er ruhig. Aber seine Zustimmung erteilte er auch nicht.
Als sie das nächste Mal damit anfing, betonte sie, Kontakt mit Altersgenossen sei wichtig für die Entwicklung ihrer sozialen Kompetenz.
»Sie sind sich selbst genug«, antwortete er darauf und fügte hinzu: »Als ich so alt war, hatte ich auch keinen Kontakt mit anderen Kindern in meinem Alter.«
Ständig verglich er seine Söhne mit sich. Es schien fast, als wolle er, dass alle drei genauso wurden wie er. Deshalb fragte sie ihn schließlich unumwunden: »Was soll eigentlich später aus ihnen werden?«
Die Ehrlichkeit seiner Antwort überraschte sie mehr als die Antwort selbst. »Sie sollen mein Werk fortsetzen. Ausbauen.«
Wie sie erwartet hatte. In dieser Hinsicht war er nicht anders als alle andern. Viele Eltern verlangten von ihren Kindern genau das, was sie selbst nicht geschafft hatten.
»Dann müssen Sie sie aber erst recht so früh wie möglich dorthin schicken, wo sie etwas lernen können«, sagte sie herausfordernd.
Aber er gab keinen Deut nach.
»Wenn sie sechs sind, Frau Maenhout. Sobald sie in die Grundschule kommen. Vorher nicht.«
Also wartete sie darauf, dass er selbst einsah, wie nützlich der Kindergartenbesuch für seine Sprösslinge wäre. Derweil fing sie schon mal an, den dreien spielerisch ein paar Dinge beizubringen.
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