Der Engelmacher
Augen zu sehen, um wieder die Kraft zum Weitermachen zu finden. Wenn sie den Atem der Kinder im Gesicht oder ihre Körperwärme an der Brust spürte, wollte sie unbedingt durchhalten. Noch konnte sie das wenigstens spüren.
Endlich kam der Turm in Sicht. Wie ein gigantisches Insekt auf hohen, mageren Beinchen stand er da, gefangen in einem Bündel von Lichtstrahlen aus den Scheinwerfern am Boden. Mit offenem Mund ließen die drei Musketiere den Blick nach oben gleiten.
»Der Baudouin-Turm«, sagte Frau Maenhout erleichtert.
»Vierunddreißig Meter hoch. Von dort oben kann man Aachen und Vaals sehen. Und bei gutem Wetter auch Lüttich. Man kann sogar den Himmel berühren.«
Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Es war, als hielte sie ihnen eine Tüte mit Süßigkeiten vor, die sie nicht anfassen durften.
»Dürfen wir da rauf?«, fragte Michael. »Ganz nach oben?«
Mit dem Schwert deutete er auf die Spitze.
Sie schüttelte den Kopf. »Der Turm ist geschlossen.«
Vorsichtig setzte sie die drei ab und lief mit ihnen zu der Einzäunung. Das Gatter am Eingang war abgesperrt. Raphael und Gabriel legten den Kopf in den Nacken und umfassten mit den Händen die Gitterstäbe. Michael streckte ein Bein vor und versuchte, sich seitlich zwischen den Stäben hindurchzuzwängen.
»Guckt mal, ich passe da durch! Ich passe da durch!«, rief er.
Frau Maenhout erschrak. Sie griff nach seinem Arm und zog ihn mit einem Ruck von dem Gatter weg. Ihre Nägel drangen tief in seine Haut.
»Aua!«, rief er, und in seinen Augen sah sie ganz kurz denselben Blick, mit dem die Jungen manchmal auch ihren Vater ansahen. Da wurde ihr klar, wie schroff sie reagiert hatte.
»Es tut mir Leid, es tut mir Leid«, sagte sie.
Sie streckte die Hand aus, um seinen Hut zurechtzurücken, aber er zog den Kopf weg.
»Nächstes Mal gehen wir hinauf«, versprach sie ihm, obwohl sie wusste, dass es kein nächstes Mal geben würde.
»Wirklich?«, fragte er.
»Ganz bestimmt.«
Sie holte tief Luft. Jetzt erst merkte sie, wie nervös sie war, und zum ersten Mal wurde ihr auch klar, wie impulsiv ihr Entschluss zu diesem Ausflug gewesen war. Das war sonst gar nicht ihre Art. Sie blickte zur anderen Seite hinüber, wo im gelblichen Licht eines Scheinwerfers ein kleiner Betonpfahl stand.
»Schaut, da ist das Dreiländereck«, sagte sie leise und lenkte so die Aufmerksamkeit der Kinder von dem Turm.
Auf Anhieb schien der Vorfall vergessen. Sie sahen erst den Pfahl an, dann einander, dann wieder den Pfahl, und schließlich rannten sie los. Wie farbige Flügel flatterten ihnen die Umhänge im Rücken. Fast gleichzeitig kamen sie bei dem Pfahl an und schlugen die Arme darum, als wollten sie ihn am Weglaufen hindern.
»Wir haben es! Wir haben das Dreiländereck!«, riefen sie aufgeregt.
Frau Maenhout lachte. »Na, da wird der König zufrieden sein. Ich glaube, jetzt ist es Zeit für euren Schlachtruf.«
Die drei Musketiere nickten und streckten prompt die Schwerter in die Luft. Um Viertel nach sechs Uhr morgens erhoben sich beim Dreiländereck drei dünne Stimmen: »Einer für alle, alle für einen!«
Frau Maenhout schluckte. Sie atmete ein paar Mal ruhig ein und aus, kam noch ein Stück näher und zeigte auf den Boden.
»Ihr steht alle drei in einem anderen Land. Geht mal einen Schritt von dem Pfahl weg.«
Auf dem Pfahl kamen nun die Buchstaben B, D und NL in weißer Farbe zum Vorschein. Frau Maenhout holte ein Stück Kreide hervor und bückte sich, um die Grenzlinien auf den Boden zu zeichnen. Die Kinder verfolgten jede ihrer Bewegungen mit den Augen. Schließlich richtete sie sich wieder auf und fing an, mit großen Schritten um den Pfahl und die Drillinge herumzugehen.
»Hier ist Belgien. Hier ist Deutschland. Und hier sind die Niederlande«, sagte sie. »Belgien. Deutschland. Niederlande. Belgien. Deutschland. Niederlande. Habt ihr’s gesehen?«
Alle drei nickten eifrig.
»Dann seid ihr jetzt dran.«
Sie trat zurück und sah atemlos zu, wie die Kinder anfingen, den Pfahl zu umkreisen, erst langsam und dann immer schneller. Dabei riefen sie die Namen der drei Länder alle durcheinander, und immer, wenn eines der Kinder zu ihr hinüberblickte und sie durch die Löcher in der silbernen Maske ein Augenpaar leuchten sah, spürte sie, wie eine Welle von Wärme ihren ganzen Körper durchlief. Sie lächelte und zwinkerte den Kindern zu. Dafür hatte sie es getan. Das wurde ihr nun klar. Nur dafür.
»Kommt, Aramis, Athos und Porthos«, sagte sie
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