Der Engelmacher
beiläufig: »Die Schwestern von La Chapelle haben die Anstalt wieder geöffnet.«
Bewusst sah er den Doktor nicht an. Er hatte keine Ahnung, wie der darüber dachte. Bei der Mutter war er sich fast sicher, dass sie das Kind nicht wollte. Sie hatte es bei der Taufe nicht halten wollen und mied auch in auffälliger Weise jeden Augenkontakt mit dem Kleinen.
Stattdessen sah sie nun ihren Mann an. Der Kaplan wandte diskret den Blick ab und sah in die Wiege, wo Victor aus vollem Halse weiterschrie. Er hob die Hand, schirmte seine Augen ab und lugte schräg zu dem Baby hinunter. Dann schüttelte er leicht den Kopf, um zum Ausdruck zu bringen, wie sehr er sich sorgte. Gespannt wartete er auf eine Reaktion, aber die blieb aus.
»Ich kann …«, setzte er deshalb an und wandte sich wieder an Johanna, »… ich kann für Sie einen Termin mit Schwester Milgitha ausmachen.«
»Wir werden darüber …«, fing der Doktor an, aber er wurde abrupt von seiner Frau unterbrochen.
»Ich will es weghaben. Karl!«, sagte sie scharf.
»Johanna, wir müssen …«
»Der Teufel steckt in ihm !«, rief die Mutter halb hysterisch. »Du hast es doch selbst gesehen!«
Mit einem Ruck wandte sie ihr Gesicht dem Kaplan zu. Ihr Blick zwang ihn, sich einzumischen .
»Herr Doktor«, sagte er ruhig, »für das Kind scheint es mir das Beste zu sein.«
In den Augen des Doktors ging in diesem Moment eine Veränderung vor sich. Erst sah er überrascht aus, dann trat kurz eine Starrheit in seinen Blick, als versuchte er, sich an irgendetwas zu erinnern. Der Kaplan schloss daraus, dass seine Worte Wirkung zeigten, und versuchte erneut, die schwache Stelle des Doktors zu treffen.
»Sie müssen an die Zukunft des Jungen denken«, sagte er und sah dem Vater gerade in die Augen.
Benommen sah Doktor Hoppe zu der Wiege. Das Geheul stieg in Wellen daraus empor, unterbrochen von kleinen Pausen, in denen das Baby nach Luft schnappte, wobei jedes Mal ein abscheuliches Fiepgeräusch erklang.
»Denken Sie an den Jungen, Herr Doktor.«
Der Kaplan sah, wie der Vater tief Luft holte, und hörte ihn dann sagen: »Machen Sie ruhig einen Termin aus. Am liebsten gleich für heute.«
Damit drehte er sich um und ging entschlossenen Schrittes aus dem Raum.
Im Kloster von La Chapelle wohnten zwischen 1945 und 1948 siebzehn Schwestern, die Anstalt hatte in der Zeit durchschnittlich zwölf Patienten. Victor Hoppe war in all den Jahren der jüngste, Egon Weiss der älteste. Er war siebenundzwanzig, als er einen Monat nach Victor aufgenommen wurde, und der derzeit gängigen Bezeichnung zufolge war er ein Idiot, ein Schwachsinniger höchsten Grades. Den größten Teil seiner Zeit in der Anstalt verbrachte er auf dem Bett festgebunden, und tagein, tagaus gab er aus dieser Position heraus stundenlang tierische Geräusche von sich. Zweifellos war der Teufel in ihn gefahren.
Am liebsten heulte Egon Weiss wie ein Wolf oder knurrte wie ein wilder Hund. Die Schwestern und die anderen Patienten brachte das zur Verzweiflung, Victor dagegen war fasziniert. In der Monotonie der Lieder und Gebete, mit denen die Insassen bombardiert wurden – die Schwestern versprachen sich davon mehr Heil als von jedweder Medizin –, stellten die bizarren Laute aus Egons Kehle eine willkommene Abwechslung dar.
Die meisten Patienten verbrachten die Tage mit Müßiggang. Manche tauschten morgens das Bett gegen einen Stuhl ein, andere standen auf und blieben dann stehen, bis sie wieder ins Bett durften. Einmal täglich mussten alle Patienten in die Kapelle. Wenn sie nicht laufen konnten, wurden sie in einem Rollstuhl gebracht, und Victor wurde getragen. Die Gesänge waren lateinisch, die Gebete fanden auf Französisch und Deutsch statt, in der Hoffnung, dass dann alle Patienten zumindest ein wenig davon begreifen würden. Eine der Schwestern saß vorne und sang vor, die anderen hockten zwischen den Patienten, die diese Sitzungen meist fügsam über sich ergehen ließen. Manche murmelten sogar das Vaterunser oder das Ave Maria mit.
Lediglich das Geheul von Egon Weiss nahm kein Ende, und so wurde er oft vorzeitig in den großen Saal zurückgebracht. Barbiturate halfen so gut wie gar nicht, selbst im Schlaf blieb er rasend, als würde er von einer Hundemeute verfolgt. Erst wenn man ihn untertauchte, und zwar zunächst in einem Bottich mit eiskaltem Wasser, dann mit glühend heißem und schließlich erneut mit eiskaltem, wurde er ruhig. Er gab dann ungefähr eine Stunde lang keinen Ton von sich,
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