Der Engelmacher
allerersten Kind, befielen ihn Zweifel. Seine eigene Vergangenheit stand ihm plötzlich im Weg. Bei jedem neuen Kneifen in den Ballon hatte er das Gefühl, sich selbst einen Messerstich beizubringen. Als er kurz aufhörte und sich einredete, er wolle nur schauen, ob sein Sohn schon alleine atmen könne, war es, als fiele ihm eine schwere Last von den Schultern.
»Lebt er, Karl?«, fragte seine Frau hinter seinem Rücken. »Sag mir in Gottes Namen, dass er noch lebt.«
Die flehende Stimme rüttelte ihn aus seiner Betäubung. Mit aller Macht fing er wieder an, Luft in die Lungen seines Sohns zu pumpen.
Das Geschrei, das sich kurz darauf erhob, gab der Mutter eine Antwort auf ihre Frage.
* * *
Die Maus kam nicht durch, allen Anstrengungen Victors zum Trotz. Dreizehn tote Mäuse und nicht eine einzige lebende. Das war das Zwischenergebnis. Die Bitterkeit, die der Doktor darüber empfand, erwies sich allerdings als voreilig, denn eine halbe Stunde später holte er aus der dritten Maus sechs lebende Junge. Zwei waren zwar am Schädel miteinander verwachsen und starben quasi sofort, aber die anderen vier sahen perfekt aus. Sie hatten die Größe eines Fingerglieds, komplett mit Schwanz, vier Pfoten und zwei Ohren. Die Haut war nackt und rosig. Die geschlossenen Augen traten hervor. Beinahe sofort gingen die kleinen Schnauzen auf und zu, auf der Suche nach einer Zitze. Victor war erleichtert. Von den sechs Embryos, die er jeweils eingepflanzt hatte, stammten drei von den rekonstruierten Zellen ab. Unter diesen vier war also mindestens ein geklontes Exemplar. Die Hände des Doktors zitterten, als er die vier Jungtiere in einen Kasten mit Papierschnipseln legte, den er unter eine warme Lampe stellte. Am ersten Tag würde er ihnen mit einer Pipette ein wenig Milch zu trinken geben, und danach würde er sie unter den anderen Mäusen verteilen, die vor ein paar Tagen auf natürliche Weise Junge zur Welt gebracht hatten. Unerfahrene Muttermäuse fraßen ihre frisch geborenen Jungen mitunter schon mal auf.
Aus der vierten Maus holte er wiederum vier lebende Junge, und auch die letzte weckte eher Hoffnungen, statt sie zu enttäuschen: Fünf der sieben Embryos hatten sich zu lebenden Mäusen entwickelt, sodass es nun insgesamt dreizehn waren. Ein Ergebnis, das alle Erwartungen übertraf.
Drei Tage später, in der Nacht des 16. Dezember 1980, entdeckte Victor bei drei der elf Mäusejungen – einen Tag später waren nämlich noch zwei auf unerklärliche Weise gestorben – erste bräunliche Haare, während sich bei den acht anderen ganz deutlich weiße Härchen auf der rosigen Haut abzeichneten. Die Spannung, die sich seiner in den vergangenen zweiundsiebzig Stunden bemächtigt hatte, fiel mit einem Mal von ihm ab. An ihre Stelle trat eine Art Rausch: Eine volle halbe Stunde lang starrte er die drei Mäuse an, die an den Zitzen der Muttermaus saugten. Ab und zu streichelte er eine mit der Fingerspitze.
***
Johanna hatte sich die Hasenscharte ihres Sohnes ganz anders vorgestellt. Schlimmstenfalls hatte sie einen oberflächlichen Schnitt von ein paar Zentimetern Tiefe erwartet, der mit ein paar Stichen zu nähen gewesen wäre. Bei ihrem Mann hatte sie immer nur die Narbe gekannt und sich nie vorgestellt, wie die Lippe wohl vorher ausgesehen hatte. Als er ihr das Kind in die Arme legte, war sie so bestürzt, dass sie den Jungen sofort von sich stieß.
»Nimm ihn weg!«, rief sie, und als graute ihr vor etwas, streckte sie die Arme in die Luft, wodurch das Kind ein Stück absackte und mit dem Gesicht auf ihrem noch nackten Bauch liegen blieb.
Karl zögerte, nicht weil er möglicherweise ebenfalls Widerwillen verspürte, sondern weil er eine solche Situation in seiner Laufbahn noch nie erlebt hatte. Alle anderen Frauen, denen er bei der Geburt geholfen hatte, hatten das Kind immer sofort an sich gedrückt, auch wenn irgendetwas mit ihm nicht gestimmt hatte. Manche hatten sich sogar schwer damit getan, es überhaupt wieder loszulassen.
»Nimm es weg, Karl!«
Es kam Johanna so vor, als hafte ihr der Mund des Kindes wie ein Saugnapf auf der Haut, und auch, als ihr Mann ihr das Kind endlich abnahm, verflüchtigte sich dieses Gefühl nicht, sodass sie ängstlich zu ihrem Bauch hinuntersah, ob das Kind auch tatsächlich verschwunden war. Dort, wo es gelegen hatte, war Blut von der Nabelschnur zurückgeblieben. Erst dachte sie, es wären Spuren von der gespaltenen Oberlippe ihres Sohnes. Angeekelt stieß sie einen
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