Der Engelmacher
ihres Mannes zu befruchten und den Embryo drei Tage später, wenn er auf die Größe von sechzehn Zellen gewachsen war, mit einer Inzision durch den Bauch und die Gebärmutterwand bei der Frau einzubringen. Diese Operation führte er innerhalb von anderthalb Jahren neun Mal bei vier verschiedenen Frauen durch. Jedes Mal wurde die Frucht innerhalb von drei Wochen vom Körper abgestoßen. Zum letzten Mal geschah das zwei Tage nach der Geburt von Louise Brown. Als diese Neuigkeit bekannt wurde, legte Doktor Hoppe die vielen Aufzeichnungen, die er sich über die Jahre hinweg gemacht hatte, endgültig beiseite.
Victor Hoppe hatte seine Notizen auf jedwedem Stück Papier gemacht, das ihm gerade in die Finger kam, nicht nur auf Schreibpapier, sondern ebenso auf alten oder neuen Briefumschlägen, auf Seiten, die er aus Zeitschriften herausgerissen hatte, auf Zeitungsrändern, Kalenderblättern, ja sogar auf den unbedruckten Innenseiten von Papiertüten aus der Bäckerei oder anderer Verpackungen von Lebensmitteln oder Medizin. Die Aufzeichnungen selbst, bestehend aus mitunter durchgestrichenen einzelnen Wörtern, Sätzen, Formeln oder Skizzen, füllten oft noch den letzten Millimeter Platz aus. Bei bedrucktem Altpapier standen sie horizontal, vertikal oder schräg am Rand neben dem Text, zwischen einzelnen Absätzen oder in dem Freiraum unter einer Zeitungsschlagzeile; oft liefen sie auch über den gedruckten Text hinweg, wobei sie dann meist umkreist waren. Die Schriftstücke waren nicht anders denn als schlampig zu bezeichnen und schwer zu entziffern.
Für Außenstehende, also für alle anderen als den Verfasser, schienen diese Aufzeichnungen zunächst wertlos; sie demonstrierten allenfalls, wie chaotisch und amateurhaft Victor Hoppe zu Werke gegangen war. Mit etwas Mühe und einiger Vorkenntnis hätte man manche der Formeln und Skizzen mit irgendeinem der vielen Experimente in Verbindung bringen können, die der Doktor angestellt hatte, aber selbst dann wäre weiter kein logischer Zusammenhang zwischen den vielen hundert Notizen zu finden gewesen.
Es gab auch keinen, jedenfalls nicht auf Papier. Die Struktur existierte lediglich in Victors Kopf. Ihm reichte ein einziges Wort oder eine Formel, um sich alles wieder zu vergegenwärtigen, was damit zusammenhing. Seine Aufzeichnungen waren für ihn lediglich Schlüssel, die ihm Zugang zu Räumen verschafften, die bis oben hin mit Informationen vollgestopft waren. Für seine Arbeit war die Art und Weise, wie sein Gehirn funktionierte, ein Segen, denn so musste er wenig nachlesen und sparte folglich auch viel Zeit. Für sein persönliches Leben war diese Begabung eher hinderlich, weil jedes Wort, das er irgendwo aufschnappte oder las, eine ganze Reihe nutzloser Assoziationen oder störender Erinnerungen nach sich zog, derer er sich nicht erwehren konnte.
Heutzutage würde man aller Wahrscheinlichkeit nach das Asperger-Syndrom bei Victor Hoppe diagnostizieren. Dr. Hans Asperger, Kinderarzt an der Wiener Universität, hat diese milde Form des Autismus in seiner Examensarbeit mit dem Titel Die › Autistischen Psychopathen ‹ im Kindesalter beschrieben. Er hatte Kinder beobachtet, die ihm durch einen ernsthaften Mangel in Sachen Sozialisation, Vorstellungsvermögen und vor allem Kommunikationsfähigkeit aufgefallen waren. Ihr Sprachgebrauch war zwar korrekt, wirkte jedoch pedantisch oder manieristisch. Die betreffenden Kinder schienen auch keinerlei Humor zu haben und zeigten nur sehr spärliche Gefühlsregungen. Zudem nahmen sie quasi alles wörtlich, was man zu ihnen sagte. Andererseits waren sie durchweg ausgesprochen intelligent und schon in jungem Lebensalter in der Lage, sich die kompliziertesten und manchmal zugleich banalsten Dinge zu merken, wie etwa die Abfahrtszeiten aller Straßenbahnen in Wien oder die Bezeichnungen der Einzelteile eines Benzinmotors.
Dr. Asperger veröffentlichte seine Befunde 1944, aber erst in den 60er Jahren nahmen andere Wissenschaftler seine Arbeit zur Kenntnis, und es sollte noch bis 1981 dauern, bis das Syndrom anerkannt wurde. Inzwischen wird behauptet, auch Leonardo da Vinci und Albert Einstein hätten das Asperger-Syndrom gehabt.
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Die Klarissen von La Chapelle kannten kein Asperger-Syndrom. Auch der Begriff Autismus war ihnen fremd. Sie wussten lediglich von den drei bereits erwähnten Formen des Schwachsinns, wobei Idiotie für einen IQ zwischen 0 und 20 stand, Imbezilität für einen solchen zwischen 20 und 50
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