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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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und Debilität für einen IQ zwischen 50 und 70.
    Von Victor Hoppe wurde also gesagt, er sei debil. Weil er kein Wort sprach, gingen die Schwestern davon aus, er kenne oder verstehe auch kein Wort. Und er benahm sich entsprechend. Er zeigte keine oder nur eine äußerst minimale Reaktion oder Gefühlsregung, wenn man ihn ansprach. Lediglich die animalischen Geräusche, die Egon Weiss von sich gab, schien er zu mögen. Stundenlang konnte er den jungen Mann ansehen und dessen vorsprachlichen Äußerungen lauschen. Er war auch der einzige Patient, der in dem Bett neben dem Idioten schlafen konnte, ohne selber verrückt davon zu werden. Darum vermuteten die Schwestern, dass es möglicherweise noch schlimmer um Victor stand, dass er womöglich imbezil oder sogar ein Idiot war. Er war indes noch zu klein, als dass man es mit Sicherheit hätte feststellen können.
    Im Alter von drei Jahren fing Victor dann plötzlich doch an zu sprechen. Es geschah in einer warmen Sommernacht des Jahres 1948. Die fast schon tropische Hitze, die einen großen Teil Europas bereits wochenlang heimgesucht hatte, war zu diesem Zeitpunkt sogar durch die dicken Mauern des Klosters von La Chapelle gedrungen und hatte die Temperatur in dem sonst so kühlen Gebäude in ungekannte Höhen getrieben. Mit der Hitze waren die Fliegen und Mücken gekommen. Die Fliegen wurden vom Geruch der schnell verderbenden Lebensmittel angezogen, die Mücken vom Schweiß der Anstaltspatienten, die auch unter diesen Umständen nicht öfter als einmal in der Woche gewaschen wurden.
    Wenn es nicht die Hitze war, die die Patienten nachts vom Schlafen abhielt, dann das Brummen der Fliegen und das Gesumm der Mücken. Auch Egons Geschrei hatte die Grenze des Erträglichen überschritten. Durch die Umstände war es nämlich immer schlimmer geworden. Die Hitze trieb ihm den Schweiß aus dem Körper, die Fliegen krochen über seine Ärmel und Hosenbeine bis zu den Achseln und zum Bauch, die Mücken saugten ihm durch die Kleider hindurch das Blut aus den Adern. Und er konnte nichts tun. Mit den Hand- und Fußgelenken ans Bett gefesselt, lag er da. Sein eigener Gestank, das Kribbeln der Fliegen auf der Haut und die juckenden Mückenstiche machten ihn verrückt.
    Keiner der Patienten tat noch ein Auge zu. Sie wurden reizbar. Aufsässig. Marc François, achtzehn Jahre, imbezil, zerrte sich eines Nachmittags alle Kleider vom Leib und rannte wie von Sinnen durch das Gebäude, immer auf der Suche nach einem Flecken, wo etwas Kühle zu finden und Egons Stimme nicht zu hören wäre. Die vereinten Kräfte von acht Schwestern waren nötig, um ihn wieder einzufangen und festzubinden.
    Fabian Nadler, vierzehn Jahre, ebenfalls imbezil, schlug mit der bloßen Faust ein Fenster ein und fing an, die Fliegen in Richtung der Öffnung zu scheuchen. Andere Patienten eilten ihm zu Hilfe. Sie sprangen und rannten quer durch den ganzen Saal hinter echten und imaginären Fliegen her. Angelo Venturini, zwanzig Jahre, machte sich das Chaos zunutze, um eine Glasscherbe aufzuheben und damit zu Egon Weiss zu laufen. Zweifellos wollte er die Dämonen aus dessen Körper schneiden und sie zusammen mit den Fliegen aus dem Fenster jagen. Aber noch bevor er Egons Bett erreicht hatte, strauchelte er und schnitt sich dabei selbst in den Oberschenkel.
    Victor Hoppe, drei Jahre, debil, brachte all das nicht aus der Fassung. Die Hitze und der Radau schienen überhaupt nicht zu ihm durchzudringen. Nicht einmal den gescheiterten Angriff Angelo Venturinis schien er bemerkt zu haben. Er saß neben Egons Bett und interessierte sich lediglich für die Insekten – nicht die auf seinem eigenen Körper, sondern auf dem Gesicht Egons. Wenn sich dort eine Fliege oder Mücke niederließ, verscheuchte Victor diese mit der Hand. Das hielt er für den Rest des Tages durch. Egon Weiss wurde davon ein wenig ruhiger, und ganz selten sah er das kleine Kind aus hohlen Augen an. Sein Blick war nichtssagend, aber dass er Victor überhaupt ansah, kam bereits einer Überwindung seiner animalischen Schüchternheit gleich. Wenn Victor die Gelegenheit bekommen hätte, hätte er Egon vielleicht zähmen können.
    Aber abends musste er wieder in sein eigenes Bett, bei dem die Nachtschwester wie immer das Gitter hochklappte, und so kam er mit den Armen nicht mehr an die Fliegen und Mücken heran. In dem schwachen Licht, das nachts über den Betten anblieb, sah er die Insekten über dem schweißtriefenden Kopf seines Bettnachbarn kreisen und hörte

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