Der Engelmacher
dessen Stimme aufheulen. Den Patienten stand wieder eine der unzähligen schlaflosen Nächte bevor.
Da beschloss Angelo Venturini, einen zweiten Versuch zu wagen und die Dämonen im Körper des Idioten doch noch zum Schweigen zu bringen, und diesmal gelang es ihm. Hinterher erinnerte er sich an nichts mehr, und weil er schon von Kindesbeinen an somnambule Neigungen gehabt hatte, meinten die Schwestern, dass er wohl beim Schlafwandeln unbewusst gehandelt habe.
Unsinn. Um schlafwandeln zu können, muss man erst einmal schlafen. Und das konnte in dieser Nacht niemand, auch Venturini nicht. Er war also hellwach, als er in dieser Nacht aufstand. Um aber den Schein zu wahren, drückte er, während er zwischen den schmalen Betten hindurchging, die ganze Zeit ein Kissen an seine Wange, was er sonst, wenn er tatsächlich schlafwandelte, allerdings nie tat.
Schwester Ludomira, die in jener Nacht Dienst tat, sah durch das Fenster des abgetrennten Raums am Ende des Ganges, erkannte Angelo Venturini an dessen Hinkegang und vertiefte sich wieder in das vor ihr liegende Gebetbuch. Sie wusste aus Erfahrung, dass er dreimal hin und her laufen und dann wieder ins Bett kriechen würde.
Venturini lief in dieser Nacht nicht dreimal hin und her. Er lief lediglich zum Bett von Egon, an dessen unablässigem Geheul sich nichts veränderte. Vielleicht hatte er den Schatten Venturinis nicht gesehen, als der sich über ihn gebeugt hatte. Vielleicht hatte er die Gefahr nicht erkannt. Vielleicht wollte er auch einfach nur, dass das Jucken aufhörte. Jedenfalls wehrte sich Egon nicht, als Venturini ihm das Kissen aufs Gesicht drückte. Er schüttelte nicht den Kopf. Er versuchte nicht, seine Hand- und Fußgelenke von den Fesseln zu befreien. Er versuchte lediglich weiter zu schreien. Aber seine Stimme klang jetzt gedämpft, was auch manchmal der Fall war, ohne dass ihm jemand ein Kissen aufs Gesicht drückte. Manchmal knurrte er so dumpf vor sich hin, als käme der Laut aus der Tiefe seines Magens. Darum sah Schwester Ludomira nicht sofort auf.
Das tat sie erst, als Egon Weiss ganz verstummte. Angelo Venturini nahm daraufhin das Kissen vom Gesicht, legte es sich wieder auf die Schulter, schmiegte seine Wange daran und lief durch den Gang zurück zu seinem Bett. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Marc François sich aufgerichtet. Er wiegte seinen Oberkörper fröhlich hin und her und klatschte in die Hände, während er wiehernd lachte.
Schwester Ludomira handelte schnell. Sie schaltete das Licht im Saal an, zog an dem Seil, woraufhin irgendwo im Kloster eine Glocke zu läuten begann, und eilte zu Egons Bett. Venturini kroch unter seine Decke und fiel sofort in Schlaf, dem Geräusch der Fliegen und Mücken zum Trotz.
Als Schwester Ludomira in Egons hohle Augen sah, die sie nun für immer zudrückte, konnte sie nur noch seinen Tod feststellen. Sie bekreuzigte sich und hörte plötzlich eine Stimme hinter sich, die sie nicht kannte. Sie drehte sich um, schlug die linke Hand vor den Mund und bekreuzigte sich mit der rechten erneut. Victor kniete auf seinem Bett, die gefalteten Hände lagen auf dem Gitter, seinen Kopf stützte er auf die Hände. Er brachte unablässig Laute hervor, bei denen Schwester Ludomira erst dachte, es sei nur Gefasel, dann aber entdeckte sie plötzlich ein Muster darin, und schließlich begriff sie, was der Junge mit der dünnen Stimme auf deutsch vor sich hin brabbelte:
Heiliger Josef, du Trost der Bedrängten, bitte für uns. Heiliger Josef, du Hoffnung der Kranken, bitte für uns. Heiliger Josef, du Patron der Sterbenden, bitte für uns. Heiliger Josef, du Schrecken der bösen Geister, bitte für uns.
Im letzten Bericht über Egon Weiss heißt es, er sei im Alter von dreißig Jahren an Erstickung gestorben, nachdem er seine eigene Zunge verschluckt habe.
In einem Zwischenbericht aus etwa derselben Zeit steht über Victor Hoppe: »Kann sprechen. Leider unverständlich.«
***
Die zwei Frauen waren extra aus Wien gekommen. Sie hatten ein besonderes Anliegen, das verschiedene andere Ärzte bereits zurückgewiesen hatten. Fast alle hatten gesagt, ihr Wunsch sei unmöglich zu erfüllen, zumindest in den nächsten Jahren. Sie selbst hingegen waren überzeugt davon, seit der Geburt von Louise Brown sei alles möglich, und die Einwände der Ärzte seien eher ethischer denn praktischer Natur.
»Ist es, weil wir ein Paar sind? Darum? Gönnen Sie es uns nicht?«, hatten sie die Ärzte stets
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